hsaka 2021: Epidemien als "Dynamo der Geschichte"?

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Epidemien als "Dynamo der Geschichte"?

Die Ärzte sind völlig überlastet. Dieser Krankheit stehen sie nahezu hilflos gegenüber. Viele Menschen infizieren sich in kürzester Zeit; die meisten von ihnen sterben bereits kurz darauf. Es kommt zu landesweiten Tumulten gegen politische Entscheidungsträger. Ganze Regionen schotten sich panisch ab und lassen niemanden mehr hinein. Das Wirtschaftsleben kommt zum Erliegen und die, die überleben, sehen sich einer ungewissen wirtschaftlichen Zukunft gegenüber. In der Hoffnung, sich das Unbegreifliche zu erklären, grassieren krude Verschwörungserzählungen. Die Welt wird im Anschluss an diese Epidemie eine andere sein.

Corona im Jahr 2020? Nein – die Rede ist vom Pestjahr 1447. Wenn gefragt wird, was Geschichte vorantreibt, wird in der Regel auf mächtige Politiker, tollkühne Eroberer oder sozio-ökonomische Entwicklungen verwiesen. Was dabei oft vergessen wird, ist der nachhaltige Einfluss von Epidemien auf den Verlauf der Geschichte. Und jedes Mal aufs Neue erscheint es den Betroffenen, als hätte es noch nichts Vergleichbares gegeben.

Innerhalb von vier Jahren kostete der erste Weltkrieg 10 Millionen Soldaten das Leben. Die Spanische Grippe hingegen schaffte nur zwei Jahre danach das Zehnfache an Toten; schätzungsweise war ein Drittel der damaligen Weltbevölkerung infiziert. Was wäre eigentlich, wenn nicht Millionen von Azteken, Inka und Maya der von Cortèz aus Europa „mitgebrachten“ Grippe zum Opfer gefallen wären – wäre Spanisch heute eine Weltsprache? Und inwiefern verändert sich eine Gesellschaft, wenn – wie im NS-Regime und der Sowjetunion – ganze Gesellschaftsgruppen als Viren und Parasiten bezeichnet werden?

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Epidemien als Dynamo der Geschichte (forts.)

In einigen Jahrzehnten werden wir auf die Corona-Epidemie zurückblicken und denken: Da waren wir live dabei. Vielleicht werden wir sogar als Zeitzeugen interviewt. Die Schulbücher werden davon erzählen, wie es „damals“ war und analysieren, wie die Epidemie langfristig Wirtschaft und Gesellschaft verändert haben wird. Da soll doch keiner sagen, wir hätten es nicht besser wissen können. Oder weiß man das vielleicht doch immer erst hinterher?

In diesem Kurs werden wir uns mit unterschiedlichen Epidemien in der Geschichte beschäftigen, ohne die unsere Welt heute deutlich anders aussehen würde. Dabei interessieren wir uns genauso für die Deutungen, mit der in der Vergangenheit versucht wurde, bisherige Epidemie-Erfahrungen einzuordnen und aufzuarbeiten, wie für die nachhaltigen politischen Veränderungen, die durch solche Krisen ausgelöst wurden. Gleichzeitig werden wir unsere Erkenntnisse zu nutzen versuchen, um die Veränderungen der Gegenwart besser zu verstehen.

Die Mitarbeit als student. Betreuer*in im Geschichtskurs der Hessischen Schülerakademie 2021 (Oberstufe) kann für Lehramtsstudierende L3 mit dem Modul BW-B (komplett) und der Übung in GE-M8 kreditiert werden.

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Seuchen und kollektive Identität

Groß war der Schreck in Deutschland, als Hegel 1831 in Berlin an der Cholera starb. Dabei war man doch davon ausgegangen, dass die Cholera nicht zu den „höheren“ Zivilisationen Europas vordringt! Und wenn doch, dann war wenigstens klar, dass die höhere und gebildete Klasse von dieser Seuche verschont bliebe. Warum? Weil bei einer physisch und moralisch guten Lebensführung sicher nichts zu befürchten sei.

Das deutsche Bürgertum strebte zu jener Zeit nicht nur nach nationaler und kultureller Einigung, sondern auch nach sozialer Abgrenzung: Man wollte nicht länger mit den einfachen Bauern und Arbeitern zu einem Stand gehören, sondern war bemüht um Herausbildung einer eigenen Identität. Dabei war es wichtig, sich sichtbar von den ehemaligen Standesgenossen abzugrenzen.

Leider stellte sich die Cholera aber als großer Nivellierer heraus, der weder zwischen den Ständen noch zwischen Starken und Schwachen, Alten und Jungen oder den Geschlechtern unterschied. Umso erstaunlicher ist es daher, dass in einer Situation, die ein gemeinsames Vorgehen gegen die Epidemie nahelegt, das preußische Bürgertum panisch versuchte, sich nach unten abzugrenzen, während die „niedrigeren“ Schichten wiederum selbst von einem tiefen Misstrauen gegenüber obrigkeitlichen Hygienemaßnahmen erfüllt wurden.

Gemeinsam wollen wir uns bei diesem Thema mit der Ambivalenz beschäftigen, dass Seuchen zwar die Identität einer Klasse herausfordern, aber zugleich auch oft Chancen zu deren Herausbildung oder Weiterentwicklung bieten. Wir werden uns dazu auf eine Spurensuche durch die Geschichte begeben und dem Einfluss von Seuchen auf soziale Schichten auf den Grund zu gehen.

[Foto = Ausschnitt aus: Kellerwohnung, Berlin Rheinsberger Strasse, (c) Stadtmuseum Berlin]

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Seuchen und Krankheiten als Faktor der Ereignisgeschichte

Wie sähe unsere heutige Welt aus, wenn Alexander der Große nicht mit 33 Jahren an der Malaria verstorben wäre? Wie hätte sich Deutschland entwickelt, wenn eine preußische Eroberung Wiens 1866 nicht durch den Choleraausbruch im eigenen Heerlager verhindert worden wäre? Und welche Chance hätte das Aztekenreich gegen die Konquistadoren gehabt, wenn nicht 80% seiner Bevölkerung durch die zuvor eingeschleppten Krankheiten dahingerafft worden wären?

Solche „Was wäre, wenn“-Szenarien zeigen, dass in unserer Geschichte nicht zwangsläufig nur strukturelle Faktoren wirken, sondern auch die sogenannte historische Kontingenz zu berücksichtigen ist: Das ist der Begriff, der für Historiker*innen am ehesten der Idee des Zufalls in der Geschichte entspricht. Hier spielen nicht nur die Taten großer Persönlichkeiten eine Rolle, manchmal sind es eben Seuchen und Krankheiten, die über das Schicksal einer solchen Persönlichkeit, über den Ausgang eines Krieges oder den Untergang eines ganzen Reiches entscheiden.

Gemeinsam wollen wir herausfinden, auf welche Art und Weise Seuchen und Krankheiten als nicht-menschliche Akteure auf die Geschichte Einfluss genommen und wie sich deren Folgen auf weitere historische Entwicklungen ausgewirkt haben. Wir werden uns dazu ein oder mehrere historische Fallbeispiele heraussuchen und auf die strukturellen und kontingenten Faktoren untersuchen. So wollen wir ergründen, welche Bedeutung Seuchen und Krankheiten für das Schicksal der Menschheitsgeschichte haben – womöglich fällt diese ja größer aus, als wir zuerst annehmen würden…

[Foto = Ausschnitt aus: Preußischer Krankenwagen bei Düppel; BArch, Bild 183-S46274, Zeichnung O. Günther]

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Soziale Konstruktion von Krankheiten

Achtung, dieser Kurs kann Spuren von Hysterie enthalten!
„Sei nicht so hysterisch!“ – schon mal gehört? Hysterie ist (oder besser: war) eine Krankheit, die kein klares Krankheitsbild, aber eine äußerst interessante Geschichte hat: So war man sich seit den antiken Griechen sicher, die Hysterie (vom griech. Wort für „Gebärmutter“) trete ausschließlich bei weiblichen Patienten auf. Noch Siegmund Freud war davon überzeugt, dass Frauen besonders häufig an dieser Krankheit leiden – und entwickelte aus seinen „Studien über Hysterie“ die Psychoanalyse. Nachdem die Krankheit im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert geradezu zu einer Modediagnose wurde, strich die American Psychiatric Society 1952 die Hysterie aus der Liste der Krankheiten.

Warum? Vielleicht, weil die Hysterie mittlerweile unter einem anderen Namen („dissoziative Störung“) bekannt ist. Vielleicht, weil es die Krankheit in der Gegenwart nicht mehr gibt. Oder vielleicht sogar, weil es die Krankheit Hysterie nie gegeben hat – denn heute ist die Wissenschaft überzeugt davon, dass die Hysterie mehr noch als jede andere Krankheit oder Epidemie eine soziale Konstruktion gewesen ist.

Gemeinsam wollen wir herausfinden, was diese sozialen Konstrukte sind, und untersuchen, wie sie entstehen. Dabei nehmen wir uns die Hysterie als Beispiel vor und begeben uns auf eine Spurensuche durch die Zeiten, um einige spannende Fragen zu beantworten: Warum wurde die Hysterie lange nur bei Frauen diagnostiziert? Was könnte sie mit durch den Körper wandernden Organen zu tun haben? Und vor allem: Warum steht die Hysterie heute nicht mehr im Register der diagnostizierbaren Krankheiten?

[Foto: Montage Women under Hysteria, Fotografien v. D.M. Bourneville & P. Régnard, 1876-1880; PD]

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Das Verhältnis von Seuchen und politischer Sprache

Stigmatisierungen und Stereotypisierungen sind in Seuchenzeiten allgegenwärtig: Die Angst vor der Ansteckung führt leicht zu einer Angst vor den „Anderen“ oder „Fremden“. Umgekehrt können aber auch Seuchen und Pandemien in der politischen Sprache als Mittel der Diskriminierung verwendet werden. Das zeigt uns das Beispiel der nationalsozialistischen Propaganda besonders eindringlich: Als "Weltpest" wurden „die Juden“ da bezeichnet, als „schädlicher Bazillus“ und „Krebsgeschwür“.

Während uns das Exempel des NS die Auswirkungen politischer Manipulation von Sprache für eine Gesellschaft im extremsten Fall zeigt, erklärt dies die Vorgänge abr noch nicht. Dazu braucht man linguistische und soziologische Analysen – oder ein gutes Stück Literatur: Der Historiker (=Geschichtsfälscher) Winston Smith in George Orwells Roman „1984“ (der selbst eine Reaktion auf den Stalinismus war) legt offen, dass eine Gesellschaft auf Dauer nur denken oder handeln kann, wofür sie Worte hat. Wer die Sprache kontrolliert, kontrolliert das Denken der Menschen. Was passiert also, wenn Seuchen und Epidemien für die politische Sprache instrumentalisiert werden? Ganz einfach: Wer von anderen Menschen als Seuche spricht, wird sie früher oder später auch so behandeln.

Gemeinsam werden wir uns mit diesem Thema auf eine Zeitreise begeben: von der Zeit der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts über den Kalten Krieg und die AIDS-Krise bis zur gegenwärtigen Pandemie. Wir werden in diesen historischen Beispielen den politischen Sprachgebrauch auf die Verwendung von Seuchen und Epidemien untersuchen und dessen Konsequenzen für die Gesellschaft oder für einzelne Bevölkerungsgruppen abschätzen.

[Foto = Ausschnitt aus: Nazi Propaganda Books, CC-BY Thomas Quine]