Reise durch den Herbst des Mittelalters

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Nach den Schrecken der Geschichte werden wir uns in diesem Jahr mit ihrer Schönheit beschäftigen. Wir begeben uns auf eine Reise durch den "Herbst des Mittelalters" (Johan Huizinga), und diese Reise führt durch ein Land zwischen Mittelalter und Neuzeit, Tradition und Innovation: das Burgund der großen Herzöge.

Während wir im Kursverlauf die wichtigsten Orte der burgundischen Geschichte – Handelsstädte, Kathedralen, Schlachtfelder, Fürstenhöfe – besuchen, betrachten wir Aufstieg und Fall einer Großmacht zwischen Frankreich und Deutschland. Dabei lernen wir einige der schönsten Kunstwerke Europas kennen, nähern uns der faszinierenden Glaubenswelt des Spätmittelalters an, arbeiten mit einer Vielfalt unterschiedlicher Quellentypen und sprechen über die Frage, wann eigentlich "die Deutschen" und "die Franzosen" zu eben jenen wurden.

Unser Kursziel wird es sein, sich in einem weiten thematischen Bogen die historischen Zusammenhänge zwischen Mensch, Raum und Kultur zu erschließen. Nicht zuletzt stellen wir uns mit der Frage, ob das 15. Jahrhundert nun tatsächlich der Herbst des Mittelalters war, erneut der Herausforderung historischer Systematisierungen von Zeit und Geschichte.

[gemeinsame Kursleitung mit Saskia Quené, Humboldt-Universität zu Berlin]

Die Etappen der Reise - eine Themenübersicht

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Paris

Sainte-Chapelle - Neues Licht für die königliche Familie
http://commons.wikimedia.org/wiki/Sainte-Chapelle

Brügge

Die Geschichte des Hauses Valois-Burgund (bis 1419)
Burgund erscheint als historisches "freak phenomenon". Das 15. Jahrhundert, da sind sich die Historiker einig, sieht ein territorial gefestigtes Europa, dessen Grenzen bereits deutliche Hinweise auf die allmähliche Formierung jener Gebilde darstellen, die später als "Nationen" die Geschichte der Neuzeit prägen werden. Mit dem Burgund der großen Herzöge entsteht aber plötzlich und unerwartet eine neue Großmacht im Herzen Europas, welche die idyllische Vorstellungswelt der Historiker ordentlich durcheinanderwirbelt. Wie kann so etwas geschehen?
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marcus_Gerards_-_volledige_kaart_-_Belgium.jpg

Dijon

Der Moses-Brunnen in der Kartause von Champmol
Wie beschreibe ich ein Kunstwerk? Wo fange ich an? Und warum hilft mir eine Kunstbeschreibung zu verstehen, was mir ein Kunstwerk über die Wirklichkeit erzählen kann? Claus Sluters Moses-Brunnen steht nicht irgendwo, sondern in der Mitte des großen Kreuzgangs der Chartreuse von Champmol. Wie passt Sluters Bildprogramm zu diesem Ort? Und was ist eigentlich ein "Brunnen"?
http://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Puits_de_Moïse

Antwerpen

Das Mérode- oder Verkündigungs-Triptychon des Meisters von Flémalle
Für die Künstler der burgundischen Niederlande ist die Bibel eine der wichtigsten Quellen. Aber wie wird mit dieser Quelle umgegangen? Bildet Robert Campin, der "Meister von Flémalle" wirklich nur ab, was im Text geschrieben steht? Oder ist sein Werk eher als eine freie Dichtung zu verstehen? Und wie kann ich die Mausefalle, die im rechten Seitenflügel des Triptychons zu sehen ist, mit der Figur des Joseph in Verbindung bringen? Aber aufgepasst – what you see, isn't always what you get. Robert Campin konnte tricksen: Hinter seinen Allegorien, Symbolen und Personifikationen verbergen sich ganze Welten.
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Robert_Campin_-_L%27_Annonciation_-_1425.jpg

Brüssel

Der Orden vom Goldenen Vlies (Burgund 1430-1467)
Erwachsene Männer hängen sich das Bild eines Schaffells um den Hals, legen ihre Hand auf einen Fasan und schwören feierlich, nicht eher zu ruhen, bevor nicht Jerusalem von den Türken befreit ist. Dann wird gefeiert (und der Fasan verspeist), und alle ziehen wieder nach Hause – ist das der "vornehmste Orden der Christenheit"? In der Tat: Ja, (auch) das ist der Orden vom Goldenen Vlies. Er ist aber auch so viel mehr: innenpolitisches Instrument, repräsentative Inszenierung, prestigeträchtiger Aristokratenverein, militärische Personalressource, königliches Attribut. In eindrucksvoller – und für den (Kunst)Historiker äußerst attraktiver – Weise manifestieren sich hier Symbol, Ritual und politische Realität in einem einzelnen, greifbaren Phänomen.
ttp://commons.wikimedia.org/wiki/Order_of_the_Golden_Fleece

Sluis

Die Karavelle
In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entwickeln die Portugiesen aus maurischen und iberischen Vorläufern den Schiffstyp der Karavelle – eine der wichtigsten technologischen Neuerungen des Spätmittelalters. Karavellen ermöglichen die portugiesischen Entdeckungsfahrten in den Atlantik und entlang der afrikanischen Küste, drei Karavellen tragen Christoph Kolumbus in die Neue Welt, Karavellen begründen die kolonialen Imperien Portugals und Spaniens. Selbstverständlich plant der Burgunderherzog seinen Kreuzzug ins Heilige Land ebenfalls mit Karavellen – und heiratet dafür sogar die Schwester Heinrichs des Seefahrers…
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Karavelle.png

Orléans

Burgund und der Hundertjährige Krieg (1415-1435)
Wer hat Jeanne d'Arc verurteilt und hingerichtet? Die Kirche? Natürlich falsch; es waren die Engländer. Wie kommen die Engländer an Jeanne d'Arc? Nun, sie wird von den Burgundern gegen einen Kaufpreis ausgeliefert. Und was haben die Burgunder mit der französischen Volksheldin zu tun? Naja, Jeanne stammt quasi aus der burgundischen Nachbarschaft. Obwohl – eigentlich ist alles noch etwas komplizierter… Aber das ist kein Wunder: Alles im Hundertjährigen Krieg ist bei genauerem Hinsehen komplizierter, als es zunächst erscheint. Und für Burgunds Rolle in diesem Konflikt gilt das erst recht.

Beaune

Die Rolin-Madonna des Jan van Eyck
Bilder entstehen nicht einfach so – im Mittelalter wurden sie meist in Auftrag gegeben, und der Auftraggeber durfte sogar die Bildinhalte mitbestimmen. Außerdem waren Bilder nicht nur "schön", sie sollten auch bestimmte Funktionen erfüllen. Eine Vielzahl an Bildelementen weist daraufhin und bringt uns zur Beantwortung der Frage: Welche Welt ist es, die Jan van Eyck dem Kanzler Rolin hier in zweierlei Hinsicht vor Augen führt?
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jan_van_Eyck_070.jpg

Cluny

Die Abtei Cluny
Leider ist heute nicht mehr viel von der Abteikirche in Cluny zu sehen. Über unser Vorstellungsvermögen und mithilfe zahlreicher Rekonstruktionen können wir uns jedoch "ausmalen", wie die riesigen Dimensionen des Kirchenschiffes auf Pilger und Mönche gewirkt haben mögen. Formenfroh war die Ausstattung außerdem – und sie hatte eine stufenförmige Choranlage. Was heißt das für die Entwicklung des Kirchenbaus?
http://commons.wikimedia.org/wiki/Abbey_of_Cluny

Vosne-Romanée

Leben zwischen Friedhof und Weinberg / Das Totenoffizium in spätmittelalterlichen Stundenbüchern
Das Stundenbuch der Maria von Burgund. Codex Vindobonensis 1857 der Österreichischen Nationalbibliothek, Kommentar von Franz Unterkircher, Graz 1993

Gent

Die "Anbetung des Lammes" im Genter Altar von Jan van Eyck
Dass Jan van Eycks Altarbild heute vorrangig ein beliebtes Postkartenmotiv ist, hätte er bestimmt niemals verstehen können. Und die "Anbetung des Lammes" ist an Festtagen doch nur den Klerikern vorbehalten! Im Altarbild finden wir Elemente wieder, die uns im Laufe des Kurses schon begegnet sind. Wie unterscheidet sich Jan van Eycks "Verkündigung" von der von Robert Campin? Und wie werden die Stifter des Triptychons dargestellt? Welche Rolle spielt hier der "Brunnen"? Plastiken waren im Mittelalter meist farbig gefasst. Auf der Werktagsseite werden die Statuen jedoch in Materialfarbe dargestellt. Was verbirgt sich hinter dieser Entscheidung Jan van Eycks?
http://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Ghent_Altarpiece

Neuss

Das Ende der Burgunder (1467-1477)
So schnell die Großmacht Burgund auch entsteht, noch schneller erfolgt ihr Untergang. Persönliche Eitelkeit Karls des Kühnen, imperiale Überdehnung, die Intrigen Ludwigs XI. oder die Sturköpfigkeit der Schweizer – was auch immer die Gründe für das Ende sind: Der Untergang des Hauses Burgund ist atemberaubend, spektakulär und absolut. Burgund verschwindet vollständig von der Landkarte, aus dem Leben und den Köpfen der Menschen. Wie kann so etwas geschehen? Oder kann es das gar nicht?

Literatur (in Auswahl)

  • Hans Belting, Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994
  • Joachim Ehlers, Heribert Müller, Bernd Schneidmüller (Hrsg.): Die französischen Könige des Mittelalters. Von Odo bis Karl VIII. 888-1498, München 1996
  • Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Stuttgart 2006 (ndl. Orig. 1919, dt. 1923)
  • Hermann Kamp: Burgund. Geschichte und Kultur, München 2007
  • Stephan Kemperdick, Jochen Sander (Hrsg.): Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden. Eine Ausstellung des Städel-Museums, Frankfurt am Main, und der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin, Ostfildern 2008
  • Eberhard König: Psalter und Stundenbücher im Spätmittelalter, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter 9/2004, S. 33-44
  • Herbert Kraume: Glanzvolles Burgund. Blütezeit im Mittelalter, Darmstadt 2010
  • Nikolaus von Kues: Vom Sehen Gottes. Ein Buch mystischer Betrachtung, München-Zürich 1987
  • Erwin Panofsky: Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance, in: Wolfgang Brassat, Hubertus Kohle (Hrsg.): Methoden-Reader Kunstgeschichte. Texte zur Methodik und Geschichte der Kunstwissenschaft, Köln 2003, S. 65-76
  • Walter Prevenier, Wim Blockmans (Hrsg.): Die burgundischen Niederlande, Weinheim 1986
  • Alarich Rooch: Stifterbilder in Flandern und Brabant. Stadtbürgerliche Selbstdarstellung in der sakralen Malerei des 15. Jahrhunderts, Essen 1998
  • Barbara Welzel: Altniederländische Malerei, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter 4/2005, S. 13-30

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Dr. Peter Gorzolla
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