hsaka 2022: Was ist Kultur?

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Was ist Kultur?

Wenn Hochkulturen in der Geschichte so wichtig sind, gibt es dann eigentlich auch Niedrigkulturen? Und wie sieht es mit unpopulärer Kultur aus? Ist Leitkultur tatsächlich ein Gegensatz zu Multikulturalismus? Warum werden Kunst und Kultur den (Natur-)Wissenschaften gegenübergestellt? Was verbirgt sich hinter den Vorwürfen des Kulturimperialismus oder der cultural appropriation?

Seit der Aufklärung wird über den Kulturbegriff gestritten: vom Gegensatz Kultur vs. Natur über den Kulturkampf der 1870er Jahre zum Kampf der Kulturen im 21. Jahrhundert und den sich aufheizenden gesellschaftlichen Diskussionen über Migration und kulturelle Identität im westlichen Kulturraum. Vielleicht würde es der Streitkultur in unserem Kulturkreis darum helfen, mal einen (kultur-)historischen Blick auf dieses Zukunftsthema zu werfen?

Im Kurs wollen wir kulturwissenschaftliche Methoden kennenlernen und diese auf historische und aktuelle Debatten über den Kulturbegriff anwenden. Wir werden dabei interdisziplinär arbeiten, viel diskutieren und mit Hilfe so mancher Kulturtechnik bestimmt einige neue Kulturgüter produzieren…

Hochkultur

Achtung: Fake News in den Geschichtsbüchern! Warum ist es kein Skandal, dass in der Schule Desinformationen verbreitet werden? Warum tut keiner etwas dagegen, dass Geschichtsbücher nicht die Wahrheit sagen? Und was kriegt man da geliefert, wenn nicht die Wahrheit?

Statt der aktuellen Erkenntnisse aus der Geschichtswissenschaft lesen wir in Schulbüchern die immer gleichen Geschichtchen, bei denen die Historie in den immer gleichen Mustern erzählt wird – so zum Beispiel die Konstruktion vom Aufstieg und Verfall von Hochkulturen oder großen Reichen: Ein Reich entsteht, blüht auf, steht auf dem Höhepunkt, verfällt, geht schließlich unter – und das nächste Reich entsteht... Diese Erzählstruktur ist nicht nur historisch fragwürdig, sie geht immer auch mit einer Aufwertung oder Abwertung von (eigenen und anderen) Kulturen einher. Wir wollen der Sache darum auf den Grund gehen und nehmen vor allem den Untergang des Römischen Reiches in den Blick. Was geschieht, wenn eine solch mächtige Hochkultur untergeht – wird sie dann zur Niedrigkultur? Verschwindet sie?

Durch die Beschäftigung mit historischen Quellen versuchen wir zu ergründen, ob Geschichte nach Mustern abläuft, und finden heraus, wie die Instrumentalisierung von Geschichte noch heute unser Leben beeinflusst. Ob Inschriften, Briefe, Skulpturen oder Münzen: Bei der Auswahl der Materialien besteht Freiraum für eigene Recherchen und Schwerpunktsetzungen. Dieses Thema ist bestimmt das richtige für Dich, wenn Du Dich nicht mit allem zufriedengeben willst, was in Büchern geschrieben steht.

Leitkultur

Wer mag Ritter eigentlich nicht? Ritter stehen für Kraft und Heldentum, Klugheit und Anstand, für harrende und geduldige Liebe, hehre Schönheit und vor allem für Mut. Kurzum: Wir fahren total auf gesellschaftliche Eliten ab! Elite? Ja, richtig gelesen: Elite. Ob Du nun Ritter magst, Eliten aber nicht, es ist ein und dasselbe: moderne Popstars in edlem Smoking / Ballkleid oder mittelalterlicher Ritter in schimmernder Rüstung. Die einen fahren im Rolls Royce von ihren Palästen in Beverly Hills zum Walk of Fame, um sich im Dolby Theatre zu präsentieren, die anderen ritten auf Destriers aus ihren normannischen Burgen zu den Turnierplätzen, um ihren Ride of Fame darzubieten. Täglich bewundern wir sie in Märchen oder auf Instagram, im Kino oder Late Night Shows.

Doch wie wird eine Elite eigentlich zur Elite? Nach welchen Mustern schließt sich eine soziale Schicht bewusst von anderen ab? Geläufig erscheint uns der umgekehrte Fall, wenn innerhalb einer Gesellschaft die Mehrheit eine Minderheit ausgrenzt und diskriminiert. Wie jedoch gelingt es einer Minderheit, sich selbst aktiv von der gesellschaftlichen Masse abzugrenzen, und zwar als etwas Besseres? Welche Mechanismen wirken, damit die Mehrheit diese Abgrenzung nicht nur mitträgt, sondern sogar trotz eigener Nachteile positiv sieht und unterstützt? Und nicht zuletzt: Welche Vorteile winken einer Elite beim Definieren einer „Leitkultur“ für die Gesellschaft?

Diesen Fragen werden wir gemeinsam am Beispiel des mittelalterlichen Rittertums nachgehen, um zu verstehen, wie Elitenbildungen innerhalb einer Gesellschaft funktioniert und wie sie ihren Fortbestand sichert. Im Anschluss versuchen wir herauszufinden, wieviel „Rittertum“ noch in heutigen Eliten zu finden ist und welche Bedeutung „Leitkultur“ für unsere gegenwärtige Gesellschaft einnimmt. Und seid gewarnt: Wer bei Rittern bisher lediglich an berittene Krieger dachte, dem wird hier gehörig das Weltbild auf den Kopf gestellt

​Kultur vs. Natur

Die Kapazität der Erde, Menschen zu beherbergen, ist begrenzt und kommt bald an ihr Limit. Ein Großteil des Planeten wird jetzt schon von untalentierten und faulen Arbeitern bevölkert, die im Gegensatz zu den gebildeten und fleißigen Eliten nur wenig zur Gesellschaft beizutragen haben. Schlimmer noch: Durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit und schnelle Vermehrung werden sie bald die besonderen Erbanlagen, die für den Erfolg der Eliten zuständig sind, verdrängt haben, sollte dem niemand einen Riegel vorschieben. Mit dieser Argumentation wandten sich Sozialdarwinisten des 19. Jahrhunderts gegen jegliche Hilfe seitens des Staates für Arme und Beeinträchtigte. Stattdessen sollte sich zum Wohle der Gesellschaft lieber der Stärkere durchsetzen.

Diesen Vorstellungen liegt eine lange Denktradition zugrunde, die sich bis in unsere heutige Zeit fortsetzt. Die Frage nach dem Wesen des Menschen und der Beziehung zu seiner Umwelt beschäftigt uns seit Menschengedenken; ihre Beantwortung fällt je nach Zeit und Kultur unterschiedlich aus. Beginnend mit der Antike unterscheiden wir dabei in der westlichen Welt zumeist nur zwei zentrale Aspekte: Natur (vom Menschen unabhängig) und Kultur (vom Menschen geschaffen). Auch wenn die Sozialdarwinisten seinerzeit das Wirken der kulturellen Seite größtenteils ausklammerten, bestimmt die Zweiteilung der Welt in Kultur vs. Natur bis heute maßgeblich unsere Sicht und unseren Umgang mit ihr. Doch wird ein solches Denken den heutigen Problemen überhaupt noch gerecht?

Am Beispiel des Sozialdarwinismus werden wir nachvollziehen, wie sich die grundlegende Unterscheidung in Natur und Kultur auf die Sicht der Menschen in der Vergangenheit ausgewirkt hat. Darüber hinaus wollen wir uns damit beschäftigen, inwieweit sich diese Denkstruktur in unsere heutige Zeit fortführt. Dazu werden wir das Modell auf mögliche Beispiele anwenden, die unsere heutige Zeit umtreiben, wie z.B. Gender und Klima.

Kulturelle Narrative

Hitler, Mussolini, Stalin oder Mao - alles Gewaltherrscher. Augustus, der mit seiner Pax Augusta in die Geschichte einging - ganz klar Verfechter von Frieden und Stabilität. Althistoriker wissen, dass dies nur für einen inneren Frieden galt, aber keine Auswirkungen auf seine skrupellose Außenpolitik hatte. Das war wohl der Grund für Mussolini, ihm im Jahr 1937 zu seinem 2000. Geburtstag zu gratulieren. Mussolini wollte dem einstigen Kaiser in nichts nachstehen und so wurden Ausstellungen, Vorträge und Konferenzen abgehalten, um die Wirkmacht der römischen Kultur wieder auflebenzulassen.

Jetzt ist es ja nichts Neues, dass Geschichte für politische, kulturelle oder wirtschaftliche Zwecke genutzt wird. Täglich werden wir mit aufwendig gestalteten und suggestiven Geschichtsnarrativen konfrontiert: in den sozialen Medien, im Kino, in Büchern, in Museen oder auf der Straße. Wir wären also lange damit beschäftigt, festzustellen, wann Geschichte wieder einmal für irgendwelche Zwecke benutzt wurde - was sollte man auch sonst damit tun? Denn Geschichte ist schließlich nicht unveränderlich; sie ist formbar. Sie erklärt Zusammenhänge, deutet die Vergangenheit in bestimmter Weise und scheint damit ihr Schicksal vorherzubestimmen: Geschichte ist Instrument politischer Interessen. Und wie ist es mit Kultur?

Natürlich werden auch die Geschichten von Kulturen erzählt und das bedeutet: Auch Kulturen werden für politische Ziele genutzt. In den Geisteswissenschaften werden solche Erzählungen kulturelle Narrative genannt. Gemeinsam wollen wir herausfinden, wie diese Narrative funktionieren, wo sie uns im Alltag begegnen und welche Konsequenzen daraus für unser Geschichtsverständnis abzuleiten sind.

Subkulturen

Punk, Goth, Emo, Glam, Prog, Metal, Rap, Hip Hop – das sind nicht einfach nur musikalische Genres, sondern (mal mehr, mal weniger jugendliche) Subkulturen. Es ist klar, dass sich Subkulturen von den dominanten Kulturformen einer Gesellschaft abzugrenzen versuchen – aber stehen sie deshalb notwendigerweise im Gegensatz zur Hochkultur? Warum und wovon grenzen sich Subkulturen ab – und wie geschieht das? Ab wann ist eine Strömung eine Subkultur? Kann eine Subkultur zur Leitkultur werden, werden Hochkulturen vielleicht als Subkulturen „geboren“? Kann eine hochkulturelle Strömung (wie die klassische Musik) durch gesellschaftlichen Wandel zur Subkultur marginalisiert werden? Dienen Subkulturen eigentlich auch der Legitimation der dominanten Strömungen (also des Mainstreams)? Welche politische Rolle spielen musikalische Subkulturen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts?

Vor allem an Beispielen aus der musikalischen Jugendkultur des 20. Jahrhunderts (bei Wunsch aber auch gern mit Ausflügen in frühere Epochen) wollen wir den gestellten Fragen nachgehen und die Bedingungen des Entstehens, des Erfolgs und des Vergehens von Subkulturen erforschen. Den historischen Fokus für unsere Beispiele bestimmen wir dabei gemeinsam.

Kulturpolitik / Kulturerbe

2018 war das Jahr europäischen Kulturerbes. „Wiederentdecken, was uns zu Europäern macht“, „das Gefühl einer europäischen Identität stärken“, die „Ideen einer nationalen Leitkultur in Frage stellen und damit den Nationalismus in Europa bekämpfen“ – das alles sollte und soll eine verstärkte Kulturförderung der EU erreichen und der schwindenden Europabegeisterung entgegentreten. Kulturpolitik als Rettung gegen rechts – ist das Politik oder Wunschdenken? Wenn Du jetzt denkst, dass sich die EU mal wieder mit unkonkreten Richtlinien begnügt hat, liegst du ausnahmsweise falsch: Auf der Suche nach einem gemeinsamen Kulturgut stieß man auf die Oper: Kaum etwas Anderes hatte im Laufe des 19. Jahrhunderts für mehr Austausch gesorgt und einen Kulturtransfer angestoßen, der sich durch ganz Europa zog und die Basis für unser bis heute existierendes länderübergreifendes Netzwerk im Kultursektor schuf. „Die Oper“ also als gemeinsames kulturelles Erbe Europas und Beitrag zu einer „europäischen Identität“ – perfekt!

Doch halt! Der Schein einer eindeutig europäischen Institution trügt, hindert er doch einzelne Nationalstaaten wie Italien nicht daran, ihre „Nationaloper“ bei der UNESCO für den Status als immaterielles Kulturerbe zu bewerben. Und was ist eigentlich mit anderen Teilen der Welt, wie zum Beispiel China mit seiner Peking-Oper? Müsste man dann nicht bei der Oper von einem „Weltkulturerbe“ sprechen?

Bei diesem Thema decken wir die Versuche verschiedener Institutionen auf, die so genannte „Hochkultur“ insgesamt und in diesem Rahmen auch die Oper für die Herstellung ihrer Identität zu instrumentalisieren. Weitere konkrete Beispiele des kulturellen (Welt-)Erbes werden wir dabei gemeinsam auswählen und ihrer Vereinnahmung, Förderung und weiteren Entwicklung auf den Grund gehen.