hsaka 2020: Ritual, Symbol, Repräsentation

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Ritual, Symbol, Repräsentation

Warum wird die Braut von ihrem Vater zum Altar geführt? Warum werden Politiker vereidigt? Wieso entfaltet reine Symbol- und Repräsentations-Politik oft so große Wirkmächtigkeit? Und wieso gibt man sich zur Begrüßung eigentlich die Hand? Viele Zeichen, Gesten, und Symbole erscheinen uns oft ebenso selbstverständlich wie inhaltsleer. Ihre Funktion erschließt sich erst, wenn man sich der Traditionen bewusst wird, in der diese stehen.

Die Identität von Gruppen und ihr organisiertes Zusammenleben sind untrennbar verbunden mit Symbolik. Dies gilt für viele kleine Gesten unseres Alltags genauso wie für Herrschaftsrituale. Öffentlich-repräsentative Handlungen, die auf den ersten Blick scheinbar sinnlos wirken, haben oft eine tiefe Bedeutung – bis hin zur Visualisierung der grundlegenden Staatsidee. Nicht umsonst hätte Karl der Große im Nachhinein wohl lieber auf seine Kaiserkrönung verzichtet; nicht umsonst führte der heute gefeierte Kniefall Willy Brandts damals zu einem Aufschrei der Entrüstung. Und wieso musste Obama eigentlich seinen Amtseid wiederholen, damit er Präsident werden konnte?

Im Kurs werden wir aktuelle Forschung anwenden, um Symbole, Rituale und Repräsentationsformen in ihrem Spannungsfeld zwischen bewusstem Aufgreifen von Traditionen und klarer Abgrenzung zur Vergangenheit zu entschlüsseln.

Gemeinsame Grundlagentexte für alle Themen

Barbara Stollberg-Rilinger: Rituale (= Campus Historische Einführungen 16), Frankfurt/New York 2013, S. 1-43 (=Einleitung). GESCHÜTZTES PDF

Herrschaftseinsetzungen

Ob Vereidigungen von Bundeskanzlern nach einer Bundestagswahl oder die Wahl von Vereinsvorsitzenden – der Amtsantritt von Führungspersonen läuft in unserer Gesellschaft jedes Mal nach dem „gleichen Muster“ ab. Durch diese ewige Wiederkehr eines (scheinbar) identischen Vorgangs wirken viele solcher Zeremonien auf uns oftmals ermüdend inhaltsleer und letztlich verzichtbar. Und doch – ändert man auch nur kleine Details am Gewohnten, kann aus einer scheinbaren Nichtigkeit ein wahrhafter Skandal bis hin zur Staatskrise werden:

Als Barack Obama bei seinem Amtseid nicht den offiziellen Wortlaut verwendete, musste das gesamte Ritual ein zweites Mal wiederholt werden, aus Angst, ansonsten der Präsidentschaft die verfassungsrechtliche Legitimität zu entziehen. Als Joschka Fischer 1985 seinen Amtseid als hessischer Minister ablegte, trug er weiße Turnschuhe. Während in nahezu jedem anderen Kontext die Frage des Schuhwerks zeitnah in Vergessenheit wäre, war dies ein so bedeutsamer Akt, dass Fischers Turnschuhe heute hinter Hochsicherheitsglas im Museum ausgestellt werden. Als die Fraktionschefin der Linkspartei dem vor ein paar Wochen durch die Stimmen der AfD ins Amt gekommenen Thüringer Ministerpräsidenten den Blumenstrauß vor die Füße warf, war dies tagelang Nachrichtenthema. Derartige Beispiele lassen sich zuhauf finden.

Rites d’institution, wie Einsetzungsrituale im Französischen sehr treffend heißen, sind eben mehr als nur der Beginn einer Amtszeit von Individuen. Sie stabilisieren, definieren und legitimieren Institutionen.

Jedes Detail, jedes Wort, jede Geste des Rituals ist dabei bedeutungstragend und in seiner symbolischen Relevanz ebenso schillernd wie traditionsbehaftet. Es wundert daher nicht an, dass insbesondere vormoderne Gesellschaften ihre Staatsideen und Herrschaftskonzepte vor allem in Einsetzungsritualen zum Ausdruck brachten. Gerade uns Bürger*innen eines modernen Verfassungsstaats hilft der Blick auf die Fremdheit vormoderner Konzepte dabei, zu entdecken, welche Relevanz unsere heutigen Einsetzungsrituale haben.

Frankfurt als Wahl- und Krönungsort

In der neuen Frankfurter Altstadt trägt der „Alte Markt“ zwischen Dom und Römer auch den Namen „Krönungsweg“ und erinnert damit an eine glanzvolle Vergangenheit der Stadt: Seit der Goldenen Bulle von 1356 war Frankfurt festgeschriebener Wahlort, seit 1562 auch regelmäßiger Krönungsort der römischen Könige und Kaiser. Hier, genauer gesagt: im Römer, kamen die Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches zusammen, um den neuen Herrscher zu wählen, der dann seine Wahlkapitulation feierlich in der Bartholomäuskirche ablegte. Am Krönungstag wurde er im Dom (auf Lateinisch!) befragt, gesalbt, eingekleidet und gekrönt, um anschließend zu Fuß die enge Gasse zum Römer zu durchschreiten, wo das Krönungsmahl den Tag beendete. Der letzte Akt sah dann die Huldigung des neuen Herrschers durch die Frankfurter Bürger vor, die diese stellvertretend für alle Untertanen des Reiches auf dem Römerberg verrichteten.

Kein Wunder, dass im Kontext dieser Ereignisse faszinierende Quellen entstanden sind! Zum Beispiel Texte, von den Prachthandschriften der Goldenen Bulle selbst über den Bericht des Humanisten und späteren Papstes Enea Silvio Piccolomini von der Wahl 1452 und die verschiedenen frühneuzeitlichen Ordines (also gewissermaßen: Durchführungsverordnungen) bis hin zu Goethes Darstellung der Krönung Josephs II. 1764 in „Dichtung und Wahrheit“. Dazu eine Vielzahl von Kupferstichen, die Wahlfeierlichkeiten und Krönungszüge darstellen, sowie Gewänder, Gefäße und andere Ausstellungsobjekte aus den Beständen historischer Museen – und nicht zuletzt natürlich archäologische Relikte und architektonische Rekonstruktionen in der Frankfurter Altstadt.

Diese ausgesprochen gute Quellenlage ermöglicht es uns, Wahl und Krönung nicht nur theoretisch nachzuvollziehen, sondern auch räumlich und sinnlich erfahrbar und erlebbar zu machen. Das Thema eignet sich daher so gut wie kaum ein anderes dafür, das performative Zusammenspiel von Ritual, Symbol und Repräsentation zu entdecken.

Deutsche Nationalfarben

In letzter Zeit machen immer wieder sogenannte „Reichsbürger“ von sich reden. Anhänger dieser Verschwörungstheorie sind aus unterschiedlichen Gründen davon überzeugt, dass die Bundesrepublik kein legitimer Staat sei. Dies spiegelt sich unter anderem darin wieder, dass sie die Flagge der BRD ablehnen. Interessanterweise sind sie andererseits jedoch nicht in der Lage, sich auf eine Alternative zu einigen. Stattdessen werden auf ihren Veranstaltungen oft mehrere unterschiedliche Fahnen gleichzeitig geschwungen. Wenn man die Geschichte der deutschen Nationalflagge betrachtet, ist dies nicht verwunderlich – die Reichsbürger sind wahrlich nicht die ersten, die sich über der Frage nach einer passenden deutschen Flagge den Kopf zerbrochen (oder gegenseitig eingeschlagen) haben.

Kaum eine andere Nation hat in ihrer Vergangenheit in relativ kurzer Zeit so oft die offizielle Flagge geändert wie Deutschland. Auch hierin unterscheidet sich die ‚verspätete‘ deutsche Nation von älteren Nationen wie Frankreich oder den USA. Während sich die französischen blau-silber-roten Querstreifen bereits lange vor 1879 etablierten und bis heute nicht grundsätzlich geändert wurden, kennt die deutsche Geschichte weder eine einheitliche Farb- noch Formgebung: Von schwarz-gold über schwarz-gold-rot bis schwarz-silber-rot sind viele Farben dabei.

Aufgrund jenes Mangels an Symbolkontinuität waren die unterschiedlichen Staatsformen auf deutschem Boden auch stets vor die Frage gestellt, in welche Flaggentradition sie sich stellen und welche ideologische Traditionslinie zur Vergangenheit sie damit symbolisch konstruieren wollen. Während etwa das deutsche Kaiserreich 1871 in seiner Farbwahl an monarchische Traditionen und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation anzuknüpfen versuchte, griffen BRD und DDR die schwarz-rot-goldenen Farben aus den napoleonischen Befreiungskriegen und der Revolution von 1848 auf.

Theater und Politik

Politiker*innen werden in Szene gesetzt, ihre Auftritte inszeniert. Sie übernehmen im Kabinett eine Rolle und treten dort ins Rampenlicht. Große Politiker*innen betreten die Bühne der Weltpolitik, und am Ende ihrer Karriere treten sie ab. Bei Staatsbesuchen oder Amtseinführungen wird Regie geführt u.v.m. Dass die Sprache der Politik voller Begriffe aus der Welt des Theaters ist, erscheint gar nicht so überraschend, wenn man bedenkt, dass moderne Politik auf Öffentlichkeit angewiesen ist. Politiker*innen müssen sich in diesem öffentlichen Raum einer großen Zahl von Menschen präsentieren, sie müssen kommunizieren, um Sympathie und Zustimmung zu erringen. Erfolgreiches öffentliches Auftreten ist daher nicht nur auf Rhetorik angewiesen, sondern braucht auch ein gewisses Maß an Schauspielkunst.

Eine naheliegende Frage ist nun, wie sich politische Inszenierungen verändern – ja, wie sich die Politik insgesamt verändert –, wenn sich die medialen Regeln der öffentlichen Kommunikation wandeln. Die Anzahl der Forschungsarbeiten zum Einfluss des Fernsehens auf die Politik der letzten Jahrzehnte ist unüberschaubar, und auch das Radio und das Kino spielen hier wichtige Rollen. Spätestens seit dem Arabischen Frühling von 2010 wird aber die Frage nach den Veränderungen unserer politischen Kultur durch das Internet immer lauter – und Donald Trump hat dazu bestimmt gerade einen frischen Tweet abgesetzt…

Dabei ist das bei weitem nicht der einzige interessante Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Theater und Politik im Rahmen der Ritualforschung. Historiker*innen interessieren sich schon länger dafür, wie das Theater als „soziales Drama“ den Verlauf und die gesellschaftliche Verarbeitung sozialer Konflikte beschreiben helfen kann – und nutzen diese Idee in der Forschung über den Zusammenhang, von Ritual, Rebellion und sozialer Dynamik.

Propaganda

Im Mai 2019 lud die Band Rammstein das Musikvideo zu ihrem Depeche Mode-Cover Stripped auf Youtube hoch – 21 Jahre nach dessen Veröffentlichung und einem Skandal, der dafür sorgte, dass der Clip seinerzeit nach nur einer Woche aus den Airplays genommen wurde. Die Band hatte sich für das Video nämlich ausgiebig bei Leni Riefenstahls Nazi-Propagandafilm Fest der Völker (1936) bedient – und erklärt, auch heute noch „ästhetisch“ hinter dem Werk zu stehen. Nun ist die angeblich „unabhängige ästhetische“ Qualität von Riefenstahls Dokumentarfilmen über viele Jahrzehnte ein Standardargument all jener gewesen, die die Regisseurin als innovative, aber unpolitische Künstlerin in politischen Zeiten sehen wollten – ein problematisches Argument, das auf der Behauptung gründet, Ästhetik sei unpolitisch und ließe sich vom inszenatorischen Kontext trennen.

Warum das auf keinen Fall funktioniert, lässt sich anhand eines anderen Riefenstahl-Werks hervorragend zeigen: dem 1935 über den NSDAP-Parteitag ins Nürnberg gedrehten Triumph des Willens. Ohne den historischen Kontext bemühen zu müssen (der Film entstand im Auftrag der NSDAP, Hitler wirkte als Produzent mit, etc.), kann man durch eine Analyse der Bilder herausarbeiten, dass kein dokumentarischer Blick von außen auf eine Inszenierung stattfindet, sondern der Film selbst die Inhalte performativ in Szene setzt – und dabei den Zuschauer geschickt zum Bestandteil des Geschehens macht.

Warum das relevant ist? Weil ein Hakenkreuz nur auf den ersten Blick ein eindeutiges Symbol ist. Wie dieses konkret „ge-deutet“ wird und welche Wirkung es beim Betrachter entfaltet, kann je nach Kontext unterschiedlich sein: historisches Phänomen, ideologische Markierung, feindliches Erkennungsmerkmal, Verkaufsargument oder einfach nur gesellschaftliche Provokation…