hsaka 2017: Geschichte verstehen

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Geschichte verstehen

“Welt verstehen” scheint ohne “Geschichte verstehen” heute nicht mehr möglich. Glaubt man zumindest dem Feuilleton, ist die Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahren zu einer der Deutungsdisziplinen für das Verständnis der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in einer globalisierten Welt geworden.

Dafür gibt es viele gute Gründe, hat sich die Geschichte als Wissenschaft doch insbesondere in der letzten HistorikerInnen-Generation enorm weiterentwickelt. Grund genug für unseren Kurs, einige der zentralen Erkenntnisse und Entwicklungen der modernen Geschichtswissenschaft in den Blick zu nehmen, wie z.B.:

Warum und zu welchem Zweck unterscheiden HistorikerInnen zwischen “Geschichte” und “Vergangenheit”? Was kann man eigentlich wirklich aus der Geschichte lernen und welche Rolle spielt dabei das Konzept der “Alterität”? Welche Bedeutung hat “Erinnerungskultur” für moderne Gesellschaften? Wieso führt uns die Geschichte von Begriffen wie selbstverständlich zur Betrachtung von “kulturellen Konstrukten”?

Wir wollen im Kurs die Augen dafür öffnen, dass Geschichte uns nicht nur die Vergangenheit verständlicher machen soll, sondern ebenso jeden Tag dabei helfen kann, die Welt unserer Gegenwart zu verstehen.

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Wahl der Kursthemen und Vorbereitung

Geschichte verstehen kann man erst, wenn man auch mit ihr und an ihr arbeitet. Dieses Arbeiten beginnt natürlich schon mit einer intensiven und umfangreichen Vorbereitung und geht dann nahtlos auf Burg Fürsteneck weiter.

Der Kern unseres Arbeitens wird daraus bestehen, eine Brücke zwischen verschiedenen „theoretischen“ Themen der Geschichtswissenschaft und Erfahrungen aus unserem Alltag zu schlagen. Hierbei werden wir uns mit der Vergangenheit genauso auseinandersetzen wie mit unserer Gegenwart, werden uns ebenso mit klassischem Quellenmaterial wie mit Social Media beschäftigen und werden wie gewohnt unsere Sitzungen durch unterschiedliche Arbeitsmethoden abwechslungsreich gestalten.

Dazu erarbeitet Ihr Euch in der Vorbereitung zunächst ein geschichtswissenschaftliches Theoriekonzept aus der folgenden Auswahl und entwickelt erste Ideen für eine Umsetzung auf der Burg. In den ersten Sitzungen der Schülerakademie erstellt Ihr dann gemeinsam das Sitzungskonzept anhand eigener Recherchen – all das in einem Team aus zwei Schüler*innen und einem/r Betreuer*in pro Thema. Wichtig ist hierbei, dass es ikeine Referate-Sitzungen gibt. Die Ergebnisse entstehen in praktischen Übungen, Diskussion, gemeinsamer Textarbeit – immer in Kooperation und Interaktion aller Beteiligten.

Folgende Themen stehen dieses Jahr zur Wahl:

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Historische Objektivität

Im Geschichtsunterricht lernt jeder, wie man eine Quelle analysiert. Man bestimmt Autor*in und Entstehungskontext, datiert und  lokalisiert sie, befragt sie nach ihrer Intention und der verwendeten Sprache. Auf diese Weise erarbeitet man sich also ein Zeugnis von der Vergangenheit und kann feststellen, was damals wirklich passiert ist.  

Das hättet Ihr wohl gern! So einfach ist das nämlich nicht. Denn wie kommt es dann, dass ein und dieselbe Quelle  immer und immer wieder auf vollkommen unterschiedliche Art und Weise gelesen und interpretiert wird? Warum streiten sich Historiker*innen bis aufs Messer über solche vermeintlichen historischen Fakten? Wie objektiv kann historische Arbeit denn eigentlich sein? Wenn heutzutage sogar schon Intellektuelle den Geisteswissenschaften Beliebigkeit unterstellen, weil sich dort jeder seine Welt bauen könne, wie sie ihm gefällt – sind wir Historiker*innen dann nur noch ein akademisches Äquivalent zu Donald Trumps “Fake News”?

Wir fühlen in diesem Themenkomplex den Historiker*innen und ihren Methoden ernsthaft auf den Zahn und stellen die wirklich großen Fragen der Geschichte: nach der Wahrheit, nach Wissenschaftlichkeit, nach der Bedeutung der Geschichtswissenschaft.
[Achtung: Diese Sitzung ist als einzige nur für eine/n Schüler*in gedacht und eignet sich am besten für Wiederholer*innen.]

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Alterität

Als man gegen Ende des 19. Jahrhunderts anfing, von Europa aus die Welt zu kolonisieren, entwickelte sich das Format der „Völkerschau“, die die Begegnung mit dem „Fremden“ zu einem kommerziellen Erlebnis machte. Doch womit genau wurde hier eigentlich Geld verdient?

Alterität – ein Wort, das erst einmal selbst befremdlich klingt – bezeichnet genau den Moment, in dem wir etwas als „fremd“ oder „anders“ empfinden. Dieser Moment ist inzwischen in den Fokus vieler Wissenschaften gerückt, und auch die Historiker*innen stellen sich die Frage, wie wir heute „dem Fremden“ begegnen und ob wir „anders“ sind als „die“ damals. Viel zu oft dient Alterität der negativen Abgrenzung von etwas. In der Geschichtswissenschaft hat dieses Konzept aber die zentrale Aufgabe, eine Epoche in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit überhaupt erst erfassen zu können.

Du willst wissen, welcher soziale Prozess abläuft, wenn du etwas „Fremdem“ begegnest? Du willst erfahren, wie in der Geschichtswissenschaft dieses Konstrukt begriffen wird? Hier kannst Du lernen, wie Alterität als Schlüssel dient, nicht nur andere Epochen, sondern „das Andere“ überhaupt angemessen zu beurteilen.

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Erinnerungskultur und die Bewertung der Vergangenheit

Nach Canossa gehen – damit verbinden wir heutzutage eine unterwürfige, teils reumütige Entschuldigung, die ihren Ursprung in den Ereignissen in Canossa im Jahr 1077 nahm. Wir stehen dabei in der Tradition von Bismarck, der 1872 voller Pathos dem Reichstag entgegenrief: „Nach Canossa gehen wir nicht!“ Doch königstreue Quellen des 11./12. Jahrhunderts beschreiben den Gang Heinrichs IV. als schlauen Plan, mit dem der König seine Macht erhalten konnte. Handelt es sich dabei um bloße Propaganda? Oder gibt es vielleicht gute Gründe dafür, dass wir uns heute, im 19. und im 11./12. Jahrhundert unterschiedlich an Vergangenes erinnern?

Als Historiker sind wir auf Erinnerungen angewiesen. Diese beruhen auf individuellen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Deutungen, aber auch auf kollektiven Erinnerungen, die unser gruppenspezifisches und kulturelles Verhalten prägen. Problematisch ist dabei nicht nur die Fragmenthaftigkeit der Erinnerungen, sondern auch die Intention des Erinnerns.

Was lässt sich überhaupt noch über den Wahrheitsgehalt einer Quelle aussagen, wenn sie selbst schon aus der Erinnerung heraus geschrieben wurde und in einem Kontext des gemeinschaftlichen Erinnerns entstanden ist? Du kannst hier die Frage beantworten, welchen Einfluss die Erinnerungskultur auf unsere Bewertung der Vergangenheit ausübt.

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Erinnerungskultur im Zeitalter von Social Media

Werden meine Selfies noch in hundert Jahren betrachtet werden – und von wem? Was hat meine facebook-Chronik eigentlich mit Erinnerung zu tun? Geschehenes wird unter anderem durch Selfies, Vlogs und Co. festgehalten. Unsere individuellen Erfahrungen und Meinungen werden über Social Media, wie zum Beispiel facebook oder instagram, kollektiv genutzt und verändert. Und was für den privaten Bereich gilt, gilt auch für den öffentlichen Raum: Die Erinnerung an globale historische Ereignisse wird durch individuelle oder kollektive Beiträge im Web nachhaltig beeinflusst.

Anders als noch vor 50 Jahren möglich kann heute direkt Einfluss auf Erinnerung genommen werden. Sobald etwas gepostet ist, wird fleißig kommentiert, geliked und geteilt. Die Erinnerung wird nicht nur festgehalten, sondern auch bewertet. Regelmäßig benutzen wir farbenfrohe Filter, Hashtags oder den praktischen „Gesichtsverschönerungsmodus“ unserer Smartphones.

Erinnerungen sind also für uns ganz klar erkennbar Konstruktionen und richten sich immer nach einem gewissen Publikum. Du kannst bei diesem Thema hinter die Fassaden von „Daumen hoch“, „Twittern“ und „Pinnen“ schauen und die Frage beantworten: Wie verändern Social Media Deine Erinnerungen? Und sind das dann eigentlich noch Deine Erinnerungen?

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Diskursgeschichte

Wer sagt was, wann, wie und warum? Und kann man Worte finden für etwas grundsätzlich Verschiedenes von dem, was schon gesagt wurde – ja, kann man etwas Verschiedenes überhaupt wahrnehmen? Sind wir zum Beispiel in der Lage, ohne binäre Konzepte über das Thema Gender zu sprechen; können wir über Rasse reden, ohne Weiß und Schwarz zu vergleichen?

Diskurstheorien erklären uns: Das Sagbare hat Grenzen. Wir werden daher zusammen dem Unsagbaren nachspüren und dabei den Konstruktionscharakter vergangener wie auch unserer eigenen Wirklichkeiten offen legen. Gemeinsam erarbeiten wir hierfür nicht nur die theoretischen Grundlagen der Diskursgeschichte, sondern beleuchten vor allem auch deren Auswirkungen auf das praktische Arbeiten von HistorikerInnen. Sprache, Diskurs und Wirklichkeit bedingen sich gegenseitig. Diskurstheorien geben uns ein Analyseinstrument in die Hand, um mit der Sprache einer Gesellschaft deren Verständnis von Wirklichkeit zu untersuchen.

Das Thema ist anspruchsvoll, das steht schon mal fest. Wenn Du aber Spaß daran hast, den vermeintlich sicheren Grund der Fakten und Tatsachen zu verlassen und die Grenzen unserer Wirklichkeit in Frage zu stellen, dann ist die Diskursgeschichte mit ihren komplexen interdisziplinären Theorien genau das Richtige für Dich.

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Die Macht der Narrative

Wer Schulbücher, populärwissenschaftliche „Sachbücher“ und Fachliteratur vergleicht, ahnt es schon: Das Erschließen von Geschichte ist untrennbar gebunden an Sprachlichkeit und Erzählmuster (Narrative). Das gilt für Laien wie Historiker_innen, ganz gleich, ob sie sich mit schriftlichen Quellen oder anderen „Texten“ wie Filmen, Musik oder Bildern auseinander setzen. Denn da Geschichte erzählt werden muss und will, liegen jeder Form der sprachlichen Vermittlung historischer Zusammenhänge narrative Kategorien zugrunde.

Historiker_innen (re)konstruieren dabei nicht nur historische Ordnungen und deuten diese, sie messen ihnen darüber hinaus auch einen Sinn bei – welcher wiederum in Sprache seinen Ausdruck findet und meist in Texte gerinnt. „Geschichte“ können wir also als Produkt einer komplexen Deutungsmaschinerie zwischen Mensch und Text erkennen. Die Funktionsweise der narrativen Grundmuster interessiert uns dabei ebenso wie die Diversität ihrer (Be-)Deutungsdimensionen.

Wir schlagen hierbei einen Bogen von der Geschichtswissenschaft über literatur- und medienwissenschaftliche bis hin zu sprachphilosophischen Betrachtungsweisen. Das Thema verlangt daher von Dir ein interdisziplinäres Interesse an verschiedenen theoretischen Konzepten, belohnt dafür aber mit detektivischem Spaß und erkenntnisgeleiteten Augenöffnern.