hsaka 2016: Geschichte in Bewegung

Spielfilme und Dokumentationen sind in unserer Gesellschaft schon seit vielen Jahren die primäre Sozialisationsinstanz für historisches Wissen. Für viele Menschen bietet das Medium Film nicht nur den ersten Kontakt mit historischen Themen, bei den meisten bleibt es nach der Schulzeit auch der einzige Lieferant von Wissen über die Geschichte.

Die Forderung nach einer stärkeren  Auseinandersetzung mit der Geschichte im Film und mit dem Film in der Geschichtswissenschaft wird darum seit geraumer Zeit immer lauter – nichtsdestotrotz spielt das Medium bis heute eine eher marginale Rolle in der Schule und an der Universität. SchülerInnen, Studierenden und LehrerInnen fehlen daher meist die Kompetenzen für eine adäquate Arbeit mit dem Medium Film in der Geschichte.

Wir ändern das.

Im Kurs erarbeiten wir uns Methoden und Techniken der Filmanalyse und wenden diese auf ausgewählte Historienfilme an. Wir betrachten die historischen Kontexte der Filminhalte und der Filmproduktionen und arbeiten die narrativen Strategien dieser in bewegten Bildern erzählten Geschichte(n) heraus.

Gemeinsam untersuchen wir Geschichte in Bewegung – und wollen damit etwas Bewegung in die Geschichte bringen!

Kursthemen

740-01 heldenreise

Die Heldenreise

Was haben die antiken Heldensagen, Grimms Märchen und moderne Kinoblockbuster (von Star Wars über Fight Club bis Schweigen der Lämmer) gemeinsam? Ihnen allen wohnt eine archetypische Grundstruktur inne, eine typische Abfolge an Situationen und Herausforderungen, ohne die der Held der Geschichte nicht an sein Ziel gelangt. Wie funktioniert dieser „Monomythos“ und wie kann es sein, dass er als Grundmuster der verschiedensten Mythen und Geschichten weltweit derart erfolgreich ist - und zwar seit Jahrtausenden? Diesen und anderen Fragen werden wir nicht nur auf den Grund gehen, wir werden davon erzählen! Der Quintessenz menschlichen Erzählens und den Möglichkeiten seiner Umsetzung im Film wollen wir dabei am Beispiel von John McTiernans 13th Warrior (1999) nachgehen, der seinerseits historisches und mythisches Material verbindet.

Das Thema verbindet ausführliche narratologische Filmanalysen mit theoretischen Konzepten der Medienwissenschaft und verlangt Bereitschaft zu kreativer Offenheit.

740-02 cinema of immersion

Cinema of Immersion

Wie viel Macht übt Film auf uns aus? Bei Propagandafilmen oder Werbung scheint diese Frage schnell beantwortet, doch wie verhält es sich mit Filmen, in denen eine offenkundige Lenkung des Zuschauers eigentlich nicht intendiert scheint? Oder unterliegen wir bereits einem Irrglauben, wenn wir annehmen, es gäbe überhaupt Filme, die ohne solche Lenkungen arbeiten? Wie lässt es sich auf der anderen Seite erklären, dass hunderte Vietnamkriegsveteranen beim Schauen von Steven Spielbergs Saving Private Ryan (1998) emotional zusammenbrachen und Flashbacks ihrer eigenen traumatischen Kriegserfahrung durchlitten? Wir werden die filmischen Mittel der „Erfahrbar-Machung“ von Emotionen am Beispiel dieses Kriegsfilms analysieren und dabei ausführlich die Produktion von „Authentizitätseffekten“ ergründen – und das natürlich insbesondere an jenen Szenen, die seinerzeit wegen ihrer Brutalität  in der öffentlichen Diskussion standen.

Das Thema verbindet ausführliche und intensive filmtechnische Analysen mit methodisch-theoretischen Konzepten der Medienwissenschaft.

740-03 erinnern und vergessen

Erinnern und Vergessen

Lebendige Geschichte, z.B. die Einladung und Befragung von Zeitzeugen, genießt stets unsere Aufmerksamkeit. Mit ihrer Hilfe, so reden wir uns ein, können wir einen Blick auf die Wirklichkeit erlangen und uns klar machen, was ‚damals so los war‘. So anziehend diese Vorstellung auch ist, sie ist dennoch irreführend. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass das, was wir zunächst als Wirklichkeit wahrnehmen, überhaupt nicht die Wirklichkeit sein muss. Das ist nicht nur eine Frage der Wahrnehmung – ganz klar ist inzwischen nämlich auch, dass unser Erinnern nicht im geringsten zuverlässig ist. Erinnerungen sind keine gespeicherten Erlebnisse, sondern individuell generierte und sozial bestätigte Konstrukte. Gleichwohl macht sie das aber nicht zu Lügengeschichten, die wir zu widerlegen hätten. Stattdessen analysieren wir, wieso und wie der Mensch von etwas überzeugt sein kann, das nicht nur unüberprüfbar, sondern sogar widerlegbar ist.

Dieses Thema ergänzt die Arbeit an theoretischen Texten und Konzepten der Geschichtswissenschaft mit naturwissenschaftlichen Ansätzen zur Gedächtnisforschung.

740-04 augenzeugenschaft

Augenzeugenschaft

Menschen generieren ihre Geschichtsbilder heute in erster Linie aus dem Medium des Films – und in Deutschland sind dabei die Geschichts-Dokus von Guido Knopp und seinen Schülern von größter Bedeutung. Typischerweise werden bei diesen gern Zeit-/Augenzeugen nach ihren Erinnerungen befragt, so z.B. in Sebastian Dehnhardts Drama von Dresden (2012), das wir exemplarisch behandeln werden. Wenn wir nämlich erkannt haben, dass man den Erinnerungen von Zeitzeugen misstrauen muss, drängt sich die Frage auf, warum sie dann immer noch eine so große Rolle in den historischen Dokumentationen spielen. Sollen sie mittels Augenzeugenschaft Authentizität suggerieren und Glaubwürdigkeit erhöhen? Darf man manipulative und die Wahrnehmung der ZuschauerInnen steuernde Absichten der Produzenten vermuten? Die Werkzeuge und Effekte, mit denen die Doku-Macher arbeiten, werden wir insbesondere am Beispiel der angeblichen Tieffliegerangriffe bei der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 analysieren.

Dieses Thema verbindet konkrete filmtechnische Analysen mit der Arbeit an den theoretischen Konzepten der vorangegangenen Sitzung.

740-05 charisma

Propaganda!

In Leni Riefenstahls propagandistischem Machwerk Triumph des Willens (1935) erscheint der Hauptdarsteller offenkundig: der charismatische „Führer“ Adolf Hitler, von der Regisseurin als Heilsfigur in den Mittelpunkt des Filmes gestellt. Die Inszenierung von jubelnden Massen, strammen Paraden und arischer Körperkultur machen daneben aber eine Besonderheit von Riefenstahls Werk aus – ein rein „ästhetischer“ und damit unpolitischer Rahmen für die Führer-Inszenierung also? Der Soziologe Max Weber entwickelte ein Konzept der charismatischen Herrschaft, dessen Anwendung auf das Werk der bis heute immer wieder als „unpolitische Künstlerin“ gehandelten Riefenstahl die Identifikation des „Hauptdarstellers“ verschiebt: weg vom Charisma besitzenden Führer hin zu einem Volk, das sich seinen Führer wählt und diesem Charisma zuschreibt. Und auf einmal werden die „ästhetischen“ Entscheidungen der Regisseurin ungemein „politisch“…

Das Thema verbindet konkrete filmtechnische Analysen mit der Arbeit an theoretischen Texten und Konzepten der Geschichtsschreibung.

740-06 rassismus

Rassismus!

The Birth of a Nation (1915) von D.W. Griffith ist ein Schwarz-Weiß-Epos über den US-amerikanischen Bürgerkrieg und den Ku-Klux-Klan. Jedem von uns wird beim Anschauen dieses Films binnen kürzester Zeit klar, dass wir ein rassistisches Werk vor uns haben. Aber warum ist das für jeden von uns so eindeutig? Was genau macht ihn eigentlich rassistisch? Und was ist und wie funktioniert Rassismus überhaupt? An der detaillierten Analyse von Schlüsselszenen von Birth of a Nation lernen wir zu verstehen, wie ein Film gesellschaftlich relevante Vorstellungen konstruiert, die so wirkmächtig sein können, dass sie aus Fiktionen Realitäten erzeugen. Bei der Beschäftigung mit diesem Film kommen wir aber auch notwendig an einen Punkt, an dem wir unsere eigenen Gewissheiten – hier unser Verständnis von Rassismus – zu hinterfragen beginnen.

Das Thema verbindet konkrete filmtechnische Analysen mit kritischer Aufarbeitung der Entstehungsbedingungen sozialer Konstrukte.

740-07 mythos der 300

Der Mythos der 300

König Leonidas und seine 300 Krieger marschierten 480 v. Chr. in den Thermopylenpass, um die Freiheit Griechenlands vor den Persern zu verteidigen, und kamen dabei alle ums Leben. Die 300 wurden zu einem Mythos und durch die Jahrhunderte hinweg immer wieder in politischen und nationalen Kontexten instrumentalisiert: Manchmal ging es dabei um Härte und Männlichkeit, meistens aber um das vorbildliche Opfer der 300, die für ihren König zu sterben bereit waren. Oder für ihr Land. Oder eine Dynastie. Oder eine Ideologie. Wann immer die militärische Lage nicht gut aussah, wurden die 300 beschworen – in Deutschland zum Beispiel im Siebenjährigen Krieg oder bei Stalingrad. Dass die Herrschenden so dachten, erscheint nachvollziehbar – warum aber waren so viele Menschen bereit, dem Beispiel der 300 zu folgen? Wie funktioniert die politische Instrumentalisierung des Opfermythos genau? Und warum ist das Opfer der 300 bis heute (z.B. für Kinozuschauer) so faszinierend?

Das Thema verbindet die Analyse von historischen Fallbeispielen mittels Quellenarbeit mit theoretischen Ansätzen aus der Mythenforschung.

740-08 ironie und pathos

Ironie & Pathos

"This is Sparta!", schallte es 2007 aus den Lautsprechern der Kinosäle. Der Mythos von König Leonidas und seinen 300 wurde durch die Jahrhunderte hinweg immer wieder instrumentalisiert – 1998 hielt er dann durch die Graphic Novel von Frank Miller auch erfolgreich Einzug in die Populärkultur. Zack Snyder wiederum adaptierte dieses Werk 2007 für einen Kinofilm, der nach eigenen Aussagen den Comic 1:1 wiedergibt. Seine 300 lösten dabei aber nicht nur eine mittelgroße außenpolitische Krise aus, bei genauem Hinsehen ist die filmische Inszenierung an entscheidenden Stellen eben doch ganz anders als die Graphic Novel. Wo Miller den Pathos nämlich durch Ironie bricht, legt Snyder noch eine Schippe Pathos drauf. Wir analysieren, wie minimale Unterschiede in Text- und Bildsprache zu völlig gegensätzlichen Darstellungen führen können.

Das Thema verbindet konkrete film- und bildtechnische Analysen in einem Medienvergleich unter Anwendung literaturwissenschaftlicher Ansätze.

740-09 fakt und fiktion

Das Übersetzer-Dilemma

Der Historienfilm ist seit den 2000er Jahren wieder in, das zeigen Hollywood-Blockbuster wie Gladiator oder Troja oder aufwändig produzierte Serien wie Rome. Vor gewaltiger CGI-Kulisse werden (historische?) Ereignisse zum Leben erweckt, die uns bislang nur aus Geschichtsbüchern bekannt waren. Doch wie zuverlässig ist die filmische Darstellung der Geschichte, wie „korrekt“ will, kann und soll sie sein? Bei der Beantwortung dieser Fragen hilft es, sich vor Augen zu halten, dass der Medienwechsel zugleich einen Wechsel des sprachlichen Referenzsystems bedeutet. Damit stellt sich bei der Frage nach der „korrekten“ Übertragung das sog. Übersetzer-Dilemma: Sollen die Inhalte „wortgetreu“ oder „sinngemäß“ übertragen werden? Ridley Scotts Kreuzzugsspektakel Kingdom of Heaven (2005), das u.a. von HistorikerInnen als „historisch unkorrekt“ kritisiert wurde, ist in dieser Hinsicht das perfekte Beispiel und Untersuchungsobjekt für uns.

Das Thema verbindet narratologische Filmanalysen mit der Aufarbeitung von historischem Hintergrundwissen und wirft geschichtstheoretische Fragen auf.

740-10 uebersetzer-dilemma

Geschichtsbilder

Die filmische Inszenierung von Geschichte ist nicht nur eine Frage der „Korrektheit“. Bilder, Geräusche, Musik, Farben, Schnitte usw. erzeugen Assoziationen und Emotionen, die wiederum transportierte Inhalte zu komplexeren Zusammenhängen und Vorstellungen verfestigen – in unserem Fall zu Geschichtsbildern. Auch für diesen Aspekt des historischen Arbeitens ist Ridley Scotts Kingdom of Heaven (2005) mit seiner bildgewaltigen, sinnlichen Opulenz ein reiches Beispiel. Wir spüren den Darstellungs- und Inszenierungstechniken des Filmes nach und legen dabei den Schwerpunkt vor allem auf die geschaffenen Bilder. Über diese analysieren wir wiederum, wie Kingdom of Heaven mit Geschichtsbildern umgeht: Wie er nicht nur neue Geschichtsbilder schafft, sondern bereits vorhandene transportiert, referenziert, transformiert oder auch gezielt ignoriert. Wer genau hinschaut, erkennt: Hier geschieht nichts zufällig…

Das Thema verbindet ausführliche filmtechnische Analysen und Bildanalysen mit der medienkritischen Arbeit an Geschichtsbildern.

740-11 individuum und struktur

Strukturgeschichten

Stanley Kubrick war einer der einflussreichsten Regisseure Hollywoods, sein Dr. Strangelove, or How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (1964) wird zu den wichtigsten 100 Filmen der Kinogeschichte gezählt. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges drehte Kubrick diesen Film, der bis heute seine eingefleischte Fangemeinde entzweit, als bissige Satire seiner Zeit: Die scheinbar Mächtigen dieser Welt kämpfen mit den Tücken des Systems und wirken angesichts von Ideologien und Strukturen der Abschreckung vollkommen hilflos. Und was hat nun dieser bitterbös lustige Blick auf den durch Menschenhand ausgelösten Weltuntergang im nuklearen Feuerball mit dem wichtigsten Richtungsstreit der Historiker im 20. Jahrhundert zu tun? Nun, dort geht es zur selben Zeit ausgerechnet um die Wende von einer „Geschichte großer Männer“ hin zu einer „Strukturgeschichte“…

Das Thema verbindet konkrete filmtechnische Analysen mit der Arbeit an theoretischen Texten und Konzepten der Geschichtsschreibung.