Die Wahrheit in der Geschichte

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Die Frage nach der Wahrheit gilt in der Geschichtswissenschaft gemeinhin als hoffnungslos naiv: Das sei etwas für Philosophen oder Theologen, nicht aber für ernsthafte Historiker! Aber ist das wirklich so?

Wir trotzen dem Mainstream und begeben uns unerschrocken auf die Suche nach der Wahrheit in der Geschichte, um sie unter verschiedenen Aspekten kennenzulernen: Ist "wahr" gleich "richtig"? Ist ein Original "wahrer" als eine Kopie? Kann eine Fiktion wahr sein? Oder sogar eine Fälschung? Muss die Wahrheit korrekt sein?

Der Weg zur Wahrheit führt uns ins Mittelalter ebenso wie ins 19. Jahrhundert, ins Museum wie ins Kino. Wir spüren Verschwörungstheoretikern und Fälschern nach, bereisen unser Gehirn und die Wikipedia, besuchen Hexen und Heilige. Als Begleiter dienen uns u.a. Leopold von Ranke, Aleida Assmann und Johannes Fried, aber auch Guido Knopp, Andy Warhol und Ridley Scott.

Letztere deuten schon an, dass wir uns auch auf Pfaden außerhalb der Geschichtswissenschaft bewegen werden, z.B. in Philosophie und Kunst, Medien- und Literaturwissenschaft – Pfade, die uns dann aber doch immer wieder zu den Grundlagen und Kernfragen des historischen Arbeitens zurückführen.

Und wer jetzt glaubt, dass sich die Frage nach der Wahrheit am Ende als bloßes rhetorisches Mittel erweist und ohne Antwort bleibt – der kennt die Wahrheit eben (noch) nicht…

Themenübersicht

Original und Kopie

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Ein Original ist mehr wert als eine Kopie – das erscheint klar, denn es hat ja auch mehr Wert, mehr "Wahrheit" sozusagen, als eine Kopie. Das gilt für die Geschichte ebenso wie für die Kunst. Die Popart der 60er Jahre aber stellte die Kunstwelt auf den Kopf. Die bis dahin noch auszumachenden Grenzen zwischen Werbung, Design und Kunst verschwammen. Einer der bekanntesten Protagonisten des Popart, Andy Warhol, bildete auf seinen Bildern nicht nur Motive aus der Werbung ab, sondern ging zur maschinellen Massenfertigung seiner Bilder über. Nur ein so hergestellter "Kopie"-Warhol war auch ein "Original"-Warhol. Hat Warhol damit die Kunst entwertet, wie es ihm vorgeworfen wurde? In jedem Fall stellt seine Arbeitsweise den Gegensatz von Original und Kopie grundsätzlich in Frage – und damit auch den höheren Wahrheitsanspruch des Originals.
Außerdem können wir feststellen, dass gerade in der massenhaften Verbreitung von Warhols Werken eine ganz eigene Qualität steckt, die für Historiker von Interesse ist…

  • Romana REBBELMUND: Appropriation Art, die Kopie als Kunstform im 20. Jahrhundert, Frankfurt u.a. 1999, S. 83-98 [Kap.: Tendenzen einer nachmodernen Kunst, Auszug]

Echt und falsch

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Jeder kennt Fälschungen. Doch was ist überhaupt "falsch" oder "echt"? Und handelt es sich dabei tatsächlich um einen Gegensatz? Unter dieser Fragestellung setzen wir uns mit historischen und sehr aktuellen "Fälschungen" auseinander.
Die Frage nach der Echtheit von Urkunden brachte sogar eine juristische Hilfswissenschaft, die Diplomatik (von lat. diplomata für Urkunden), hervor. Doch welche Erkenntnis kann die Frage nach Echtheit noch liefern, wenn bekannt ist, dass etwa 40% der Urkunden Karls des Großen und sogar etwa 60% der Merowingerurkunden gefälscht sind?
Anlässlich des 25. Jubiläums von Photoshop in diesem Jahr und der skandalösen Aberkennung des World Press Awards bietet sich außerdem eine Beschäftigung mit den historischen wie aktuellen Fälschungsmöglichkeiten des Mediums Fotographie und die Verknüpfung der Photographie mit einem erkenntnistheoretischen Wahrheitsbegriff an.

  • Horst FUHRMANN: Von der Wahrheit der Fälscher, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der MGH..., Bd. I, Hannover 1988, S. 83-98

Offenbarte Wahrheit

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Mittelalterliche Heiligenviten (also die Lebensbeschreibungen von Heiligen) wurden in der Geschichtswissenschaft lange Zeit historiographisch  (also als "wahre" Geschichtsschreibung) gelesen. Nachdem man erkannte, dass die Werke dieses Genres allesamt sehr schematisch aufgebaut sind unabhängig vom historischen Kontext eine letztlich immer gleiche "Wahrheit" offenbaren, galten sie als historisch unzuverlässig und "unwahr" und wurden nur noch als Literatur wahrgenommen.
Im Mittelalter aber waren diese Werke sehr erfolgreich und weit verbreitet und galten geradezu als Inbegriff "wahrhafter" Erzählung. Wie lassen sich die Unterschiede zwischen diesen Konzeptionen von "Wahrheit" erklären und was kann ein Historiker daraus lernen?

  • http://de.wikipedia.org/wiki/Hagiographie
  • JACOBUS DE VORAGINE: Legenda Aurea. Heiligenlegenden, übers. v. Jacques Laager, Zürich 1990 [verschiedene Auszüge der Viten von Silvester, Benediktus, Alexius, Dominikus und Dionysos Areopagitus]

Übersetzer-Problem

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Historienfilme bieten uns die Illusion einer Zeitreise, werden wir doch vom Kinositz in weit entfernte Länder und Zeiten geführt. Doch unser Echtheitsanspruch macht uns häufig skeptisch: Wie authentisch sind Historienfilme? Wie historisch "korrekt" und "wahr" ist das Dargestellte? Das Misstrauen ist angebracht, da Hollywood verschiedene Mittel der Narration benutzt, um Wissen aus historischen Quellen in das Medium Film zu "übersetzen". Dadurch wird die einfache Frage nach "wahr" und "falsch" aber unsinnig – das Übersetzer-Problem ist viel komplexer und erfordert daher auch, ganz andere Maßstäbe an Historienfilme anzulegen. Wir tun das in der Sitzung am Beispiel von "Königreich der Himmel" (2005) und untersuchen den Film hinsichtlich moderner Konstruktionen des Mittelalters.

  • Königreich der Himmel (2005, Regie: Ridley Scott) [orig. Kingdom of Heaven, 144 min., Director´s Cut 190 min.] [IMDb]

Faktizität und Fiktionalität

white - auch klio dichtet

1978 erschien eine Aufsatzsammlung von Hayden White unter dem dt. Titel "Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen". Klio ist die Muse der Geschichtsschreibung, und dass sie als Muse dichtet, wundert uns nicht. Die Geschichtsschreibung hingegen wird bis heute immer wieder als Wissenschaft präsentiert, die ihren Wahrheitsanspruch aus einer möglichst objektiven Darstellung von "Fakten" zieht. Dass in der Geschichtsschreibung etwas Dichterisches oder Fiktionales liegen könnte, lässt einen aufhorchen. Mit White hat aber die moderne Geschichtswissenschaft erkannt, dass ein Schreiben von Geschichte ohne Fiktion gar nicht möglich ist; dies liegt schon in der Struktur der Sprache und des Erzählens begründet. Die Frage ist also in der Tat, ob das Faktische nur eine Fiktion ist. Und was bedeutet das für unser Verständnis von "Wahrheit" in der Geschichtsschreibung?

  • Hayden WHITE: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen, 2. Aufl., Stuttgart 1991, S. 145-160 [Kap. 5: Die Fiktionen der Darstellung des Faktischen]

Realismus / Verismus

michelangelo pieta

In der bildenden Kunst, etwa an der menschlichen Skulptur, lässt sich die täuschende Abbildung mittels Glasaugen, Echthaar usw. bis in die griechische Antike zurückverfolgen. Man nennt die möglichst wirklichkeitsgetreue Nachahmung üblicherweise naturalistisch oder realistisch. Eine Ausstellung im Liebieg-Haus überschrieb sie jüngst als veristisch, nach dem lateinischen Adjektiv verus (wahr). Was aber ist "Wahres" am Verismus? Das erkunden wir am Beispiel mehrerer Skulpturen vom Hochmittelalter bis zu den 2010er Jahren – darunter auch Michelangelos römische "Pietà".
Überraschende Ähnlichkeiten dazu weist der Poetische Realismus auf. Durch einen Blick in die Programmatik dieser Epoche gelangen wir zu einem umfassenderen Verständnis ihrer literarischen Realitätseffekte.

  • Theodor FONTANE: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, in: Deutsche Annalen zur Kenntnis der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit 1, 1853, S. 353-377 [ND 140-148]
  • div. Lexikonartikel zum „Realismus“ als Nachdruck: in Gerhard PLUMPE (Hg.): Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, Stuttgart ²1997

Wahrheit - Wirklichkeit - Wahrnehmung

Matrix

Philosophen haben seit der Antike ein Problem mit der Wirklichkeit – und das ist bis heute so geblieben. Das Gedankenexperiment von Hilary Putnam mit dem skurrilen Namen "Gehirne im Tank" zeigt, dass wir mit gutem Recht die Existenz der gesamten Welt, wie sie uns erscheint, anzweifeln dürfen. Eventuell leben wir nämlich in einem Traum ohne Erwachen oder in einer virtuellen Wirklichkeit und wissen nichts davon – Matrix lässt grüßen! Die meisten Neurowissenschaftler werden uns bescheinigen, dass unser Sinnesapparat nicht dazu ausgelegt ist, die Welt, die uns umgibt, in ihrem vollen Umfang zu erkennen. Wie sollen wir dann überhaupt zur "Wahrheit" durchdringen können? In unserer Sitzung machen wir uns Sinnestäuschungen und Illusionen zu Verbündeten, um die Problematik der Wirklichkeit ein wenig klarer wahrzunehmen.

  • Olaf MÜLLER: Das Gehirn im Tank, in: Die Zeit Nr. 32 vom 02.08.1996 (Auszug) 
  • Matrix (1999, Regie: The Wachowski Brothers) [orig.: The Matrix, 136 min.]
  • Thomas  NAGEL:  Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie, Stuttgart 2008, S. 12-23 [Kap.: Woher wissen wir etwas?]

Wie wahr sind Erinnerungen?

Das Drama von Dresden

Im Fernsehen berichtet in einer Dokumentation ein älterer Herr von seinen traumatischen Erlebnissen während der Bombardierung Dresdens 1945. Anne Frank erzählt in ihrem Tagebuch von ihrem Leben im Versteck in Amsterdam. Helmut Schmidt beschreibt in seiner Autobiographie den Lauf seines Lebens. Und wir sind es gewohnt, diese Erinnerungen für zuverlässig zu halten. Tatsächlich aber ist unser Gedächtnis alles andere als zuverlässig! Und das stellt wiederum den Wahrheitsanspruch von Zeitzeugen grundsätzlich in Frage.
Außerdem untersuchen wir in der Sitzung, welchen Einfluss die Form der Darstellung von Erinnerungen auf unsere Wahrnehmung ihres Wahrheitsanspruchs hat – von Tagebüchern über Filmdokus bis zu Graphic Novels.

  • Aleida ASSMANN: Wie wahr sind Erinnerungen?, in: Harald Welzer (Hg.), Das soziale Gedächtnis, Hamburg 2001, S. 103-122

Wahrheitsproduktion und Diskurs

foucault

Was ist Wahrheit? Michel Foucault, französischer Philosoph und Soziologe des 20. Jahrhunderts, würde hierauf vielleicht antworten: Wahrheit ist die Wirklichkeit selbst unter gewissen Bedingungen. Doch was ist dann "Wirklichkeit"? Welche sozialen Bedingungen beeinflussen unsere Wahrnehmung davon? Und wie können wir uns auf eine Wahrheit einigen, wenn sich unsere Wahrnehmungen und die daraus resultierenden Deutungen unterscheiden?
Den gesellschaftlichen Raum, in dem genau dieser Aushandlungs- und Einigungsprozess geschieht, nennen wir Diskurs. In unserer Sitzung begeben wir uns auf eine Reise mit dem Ziel einer Annäherung an die Wahrheit und ihre Produktion im Sinne der Foucaultschen Diskursanalyse.

  • Ulrich Johannes SCHNEIDER: Foucaults Analyse der Wahrheitsproduktion, in: Günter Abel (Hg.), Französische Nachkriegsphilosophie. Autoren und Positionen, Berlin 2001, S. 299-313

Revolutionen des Wissens

Inquisition

Spätestens seit den 70er Jahren ist nachgewiesen, dass die angebliche massenhafte Hexenverfolgung des Mittelalters nie stattgefunden hat. Das in Teilen bis heute überdauernde Bild der Hexenhysterie hat seinen Ursprung stattdessen in einer Reihe von gefälschten Dokumenten späterer Jahrhunderte. Aber nicht nur in der Öffentlichkeit haben diese neuen Erkenntnisse Schwierigkeiten sich durchzusetzen: Bis heute findet man die Hexenverfolgung auch noch in wissenschaftlichen Werken zur mittelalterlichen Geschichte.
Gerade dieser eher unglückliche Fall bietet allerdings einen interessanten Einblick in die Funktionsweise des wissenschaftlichen Betriebs. Denn trotz ihrer falschen Ergebnisse sind die älteren Forschungen zur Hexenverfolgung nicht wirklich unwissenschaftlich. Vielmehr verweisen sie auf grundsätzliche Widerstände, gegen die sich neue Erkenntnisse in den Wissenschaften durchsetzen müssen.

  • Norman COHN: Europe’s Inner Demons. The Demonization of Christians in Medieval Christendom. Revised Edition, Chicago 1993, S. 181-201 [chap. X: How the witch-hunt did not start]

Kontakt

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