Erzählte Geschichte(n) und gedachte Sprache

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Die Geschichtswissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten durch harte Auseinandersetzungen ihre Methoden geschärft und ihre erkenntnistheoretischen Beschränkungen reflektiert. Am Ende aber müssen alle mühsam erarbeiteten Ergebnisse durch ein selten bedachtes Nadelöhr: Geschichte muss erzählt werden.

Das Erzählen aber unterliegt eigenen Regeln, unabhängig davon, in welcher Form der erzählte „Text“ vorliegt – schriftlich, mündlich, als Inszenierung, in bewegten oder unbewegten Bildern. Und damit ist noch nicht einmal das zentrale Problem angesprochen: dass nämlich bereits unsere Sprache das Erzählbare, Sagbare, Denkbare entscheidend präfiguriert. Doch wäre unser Denken ohne Sprache überhaupt denkbar?

Dem Thema der narrativen und sprachlichen Bedingtheit der Geschichtswissenschaft nähern wir uns im Kurs u.a. aus narratologischer, literatur- und medienwissenschaftlicher sowie sprachphilosophischer Perspektive. Wir untersuchen dabei das historische Erzählen in verschiedenen Ausdrucksformen, neben Quellen und fachwissenschaftlichen Texten z.B. in Romanen, TV-Dokumentationen, Kinofilmen, Schulbüchern – und natürlich in unseren eigenen Geschichtsbildern.

[gemeinsame Kursleitung mit Saskia Quené, Berlin]

Themenübersicht und Literatur

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Grundlagen der Narratologie I: Erzählung und Erzählen

Was heißt eigentlich „Erzählung“ und was „Erzählen“ im wissenschaftlichen Kontext? Es ist klar, dass unser Alltagsverständnis dieser Begriffe nicht trennscharf genug ist für eine ordentliche Textarbeit – oder stört das womöglich gar nicht? Wie sieht eine literaturwissenschaftliche und wie eine historische Herangehensweise an diese grundlegenden Elemente einer konzeptionell interdisziplinären Narratologie aus?

  • Monika FLUDERNIK: Erzähltheorie. Eine Einführung, 3. Aufl., Darmstadt 2010, Kap. I: Erzählung und Erzählen (9-16)

Grundlagen der Narratologie II: Modelle und Grundbegriffe

Wer ernsthaft literaturwissenschaftlich mit Texten jeglicher Art arbeiten will, braucht dazu Grundlagen. Das gilt erst recht für die narratologische Analyse von Texten. Ausgehend von den erzähltypologischen Modellen erarbeiten wir uns die grundlegenden Konzepte und Begriffe der literaturwissenschaftlichen Textanalyse (z.B. Motiv, Fokalisierung, Diegese, Ellipse, Mimesis). Als gute Historiker fragen wir aber natürlich auch nach den theoretischen Implikationen dieser Modellbildungen.

  • Monika FLUDERNIK: Erzähltheorie. Eine Einführung, 3. Aufl., Darmstadt 2010, Kap. IX: Erzähltypologien (103-123)

Die Macht der Narrative: Campbells Heldenreise

Was haben Star Wars, Das Schweigen der Lämmer, Fight Club, Der Zauberer von Oz und Pretty Woman gemeinsam? Und was verbindet diese Filme mit den griechischen Mythen und der Beowulf-Sage ebenso wie mit dem „Herrn der Ringe“, „Eragon“ oder dem „Graf von Monte Christo“? Mit der überraschenden Antwort auf diese Fragen ergründen wir die Meistererzählung (oder nach C.G. Jung: den Monomythos) unserer Kulturgeschichte schlechthin – und verstehen außerdem den Unterschied zwischen Plots und Erzählstrukturen.

  • Christopher VOGLER: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos, 6. Aufl., Frankfurt 2010 [orig. 1992], Kap.: Eine praktische Einführung (49-77)

Eine neue Sprache eine neue Welt

Natürliche Sprachen dienen nicht sich selbst, sondern der interpersonalen Erschließung der Welt. Mit Morphemen, Wörtern, Signalen, Prädikatoren, Eigennamen und Zeichen  verständigen wir uns und versuchen wir, uns gegenseitig zu „verstehen“. In dieser Sitzung bauen wir unser sprachphilosophisches Vokabular auf, um dann in Sprache und Rede (wo ist der Unterschied?) über die Sprache sprechen zu können.

  • Wilhelm KAMLAH und Paul LORENZEN: Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, 2. Aufl., Mannheim 1973, Kap. 2: Welt, Sprache, Rede (45-69)

Denken und Sprache

Wenn sich uns die Welt über unsere Sprache erschließt, passt die Sprache sich einerseits der Welt und ihrer sich aufdrängenden Gliederung an, andererseits strukturiert sie auch selbst die Welt. In dieser Sitzung nähern wir uns erstmals der Frage an, wie die Sprache unsere Wahrnehmung und wie die Wahrnehmung der Welt unsere Sprache beeinflussen. Die These, dass die Sprache nicht nur auf unsere Wahrnehmung, sondern auch auf unser Denken einwirkt, steht dabei im Mittelpunkt.

  • Benjamin Lee WHORF: Sprache, Denken, Wirklichkeit, Hamburg 1963; Kap. 1: Naturwissenschaft und Linguistik; Kap. 2: Die Linguistik als exakte Wissenschaft (7-30)

Das Sprache-Denken-Problem

Was ist gegen die berühmte Sapir-Whorf-Hypothese einzuwenden, die besagt, dass die Sprache unser Denken strukturiert? Welche Probleme begegnen uns mit der Annahme dieser These? Wie lauten ihre Konsequenzen? Will man sich möglichen Antworten auf diese Fragen annähern, so gilt zu klären, was wir genau unter „Denken“ verstehen. Ist das Denken nicht immer auch sprachlich? Wie sich grammatikalische Strukturen zweier Sprachen voneinander unterscheiden, lässt sich nun mal einfacher beschreiben als der Unterschied zwischen den Denkstrukturen zweier Menschen. Oder?

  • Winfried FRANZEN: Die Sprache und das Denken. Zum Stand der Diskussion um den "linguistischen Relativismus", in: Jürgen Trabant (Hrsg.): Sprache Denken. Positionen aktueller Sprachphilosophie, Frankfurt 1990, 249-268

Die sprachliche Struktur(ierung) der Welt

Ein Stuhl muss weder vier Beine oder eine viereckige Sitzfläche haben noch muss er aus Holz gemacht sein, um ihn als „Stuhl“ erkennen zu können. Doch wenn wir an „Stuhl“ denken, haben wir ein ganz bestimmtes Bild vor Augen. Gegenstände, Wörter und Phänomene, die uns in der Welt begegnen, werden strukturiert. Aber wie? Und warum? Nun lässt sich in zwei Richtungen argumentieren: 1. Unabhängig vom Denken und der Sprache gibt es natürliche Kategorien, jeder Gegenstand und jedes Phänomen lässt sich theoretisch irgendwann einer Kategorie zuordnen. 2. Das Bild, das wir vor Augen haben, wenn wir an „Stuhl“ denken, ist ein sprachlich-kulturell bedingtes „Urbild“ und basiert nicht auf äußeren Faktoren. Wie lassen sich beide Thesen angemessen verteidigen?

  • Steven PINKER: Wörter und Regeln. Die Natur der Sprache, Heidelberg/Berlin 2000; Kap. 10: Ein digitaler Geist in einer analogen Welt (363-389, 406-407)

Ein neues Schreiben ein neues Denken

Im Vergleich zur Rede ist das Schreiben eine Technologie, eine kontextfreie Sprache, die in der Lage ist, unabhängig vom Autor zu agieren. Die Möglichkeit zur Korrektur (heute noch einfacher als damals mit der Schreibmaschine) vertuscht mühsame Überlegungen und Manöver des Denkens. Die für die Geschichtswissenschaft interessante These, dass auch die Richtung, in der geschrieben wird (von oben nach unten oder von links nach rechts), und damit der Prozess des Schreibens das Denken in höchstem Maße beeinflussen, wird Untersuchungsgegenstand dieser letzten sprachphilosophischen Sitzung sein.

  • Walter J. ONG: Oralität und Literalität, Opladen 1982, Kap. 4: Das Schreiben konstruiert das Denken neu (81-117)

Ambivalente Worte: Kosellecks Begriffsgeschichte

Die Historiker beschäftigen sich (anders als z.B. Archäologen) vornehmlich mit Quellen, die sprachliche Produkte fixieren, darum ist auch die Sprache ihr wichtigstes Instrument zur Recherche, Analyse und Interpretation der Geschichte. Was aber, wenn man sich bewusst macht, dass nicht nur die Sprache, sondern auch Wörter und Begriffe eine Geschichte haben? Die Analyse dieser Begriffsgeschichten legt einige Irrtümer darüber offen, was wirklich erfolgreiche sprachliche Kommunikation ist.

  • Reinhart KOSELLECK: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders. (Hrsg.): Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979, 19-36

Historiographie und Fiktion I: Frieds Lob der Phantasie

Ohne Phantasie ist kein wissenschaftliches Arbeiten möglich. Jede Selektion, jede Analyse, jede Interpretation braucht spekulative, vielleicht sogar kreative Elemente. Wie viel Fiktion steckt also in jedem wissenschaftlichen Text? Und wie viel Fiktion braucht, wie viel verträgt die Wissenschaft? Wir suchen die verlorene historische Wahrheit in den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen literarischem und wissenschaftlichen Schreiben und stellen uns der Frage: Sind die Historiker am Ende nur bessere Romanautoren?

  • Johannes FRIED: Wissenschaft und Phantasie, in: Historische Zeitschrift 263 (1996) 291-316

Historiographie und Fiktion II: Whites Metahistory

Clio, die Muse der Historiographen, verweist auf die frühere Wahrnehmung der Geschichtsschreibung als Verwandte der Dichtkunst. Und obwohl Clio auch heute noch die Patin vieler geschichtswissenschaftlicher Institutionen ist, würden doch viele Historiker den Vergleich mit dem Dichter von sich weisen. Zu Unrecht, so White, und auch zum eigenen Nachteil: Denn alles historiographische Schreiben geschehe in literarischen Formen – darum seien die Romanautoren am Ende oft die besseren Historiker…

  • Hayden WHITE, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen, 2. Aufl., Stuttgart 1991, Kap. 5: Die Fiktionen der Darstellung des Faktischen (145-160)

Geschichte erzählen zwischen Mythos und Kunst

In einem furiosen Finale greifen wir u.a. mit Frye, Peirce, Lévi-Strauss, White literaturwissenschaftliche, sprachphilosophische, erkenntnistheoretische und strukturalistische Aspekte auf und versuchen, die Komplexität des Anspruchs historiographischen Arbeitens zu(sammenzu)fassen. Gibt es eine Poetik der Geschichte? Und noch wichtiger: Wenn es sie gibt, ist sie beschreibbar, nachvollziehbar, nutzbar? Und was bleibt eigentlich noch von der Geschichtsschreibung, wenn man sich ihre literarischen Elemente wegdenkt?

  • Hayden WHITE, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen, 2. Aufl., Stuttgart 1991, Kap. 3: Der historische Text als literarisches Kunstwerk (101-122)

Weitere Literatur und Medien

  • Walter J. ONG: Oralität und Literalität, Opladen 1982, Kap. 3: Die Psychodynamik der Oralität (37-80)
  • Tom STOPPARD: Arkadien, übers. v. Frank Günther, Köln 1993 [orig. Arcadia: A Play in Two Acts, 1993], Auszug (S. 6-65)
  • Königreich der Himmel (2005, Regie: Ridley Scott) [orig. Kingdom of Heaven]
  • Der 13. Krieger (1999, Regie: John McTiernan) [orig. The Thirteenth Warrior]
  • The Animated Bayeux Tapestry (new ed. 2003, Potion Pictures), http://www.youtube.com/watch?v=LtGoBZ4D4_E

Kontakt

Dr. Peter Gorzolla
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