Eine Wissenschaft wird für gewöhnlich durch ihren Gegenstand und ihre Methode definiert – oder aber durch ihre Grenzen (de finis)! Im Fall der Geschichtswissenschaft ist letzteres ein außergewöhnlich reizvolles (wenn auch nicht ganz einfaches) Unterfangen. Hier sind nicht nur die Abgrenzungen – zu anderen Wissenschaften, zur Geschichtskultur, zum Schulfach – von Interesse, sondern ebenso die thematischen Grenzbereiche, die stete Reflexion über das Grenzen ziehen an sich und nicht zuletzt auch die immer wiederkehrende Frage, wo die Geschichtswissenschaft an ihre (Leistungs-)Grenzen stößt.
In unserem Kurs werden wir uns das Wesen und den Kern dieser Wissenschaft erschließen, indem wir ihr uns von den Grenzen, von ihren Rändern her nähern. Schon die historischen Exempel entstammen dabei einem Randgebiet (der schulischen Geschichtsvermittlung): dem Mittelalter. Und während wir uns dann beispielsweise mit Magie und anderen (Grenz-)Wissenschaften beschäftigen, den Zusammenhang von Wahrheit und Skrofulose klären, unsere Liebe zum Aberglauben entdecken oder einen Praxiskurs in pseudowissenschaftlicher Geschichtsklitterung belegen, lernen wir zugleich auch Kategorien und Methoden des historischen Arbeitens kennen: Geschichtsbilder, Quellenkritik und -interpretation, Periodisierung, Überlieferung, Alterität, Objektivität und Methodenorientierung – alles durchaus sehr zentrale Aspekte, übrigens...
Was ist Geschichtswissenschaft und wozu ist sie gut? Was unterscheidet sie von "Geschichte" oder "Geschichtsunterricht"?
Um die Geschichtswissenschaft zu verstehen, schaut der Historiker natürlich in ihre Vergangenheit. Wir blicken auf die "Geburtsstunde" der modernen Geschichtswissenschaft und ihren "Geburtshelfer" Ranke.
Ohne Wenn und Aber steht im Zentrum des historischen Arbeitens der Umgang mit den Quellen. Hier wird schnell deutlich, warum "historisch denken" immer auch "kritisch denken" heißt.
Nach einer weit verbreiteten, aber selten ausgesprochenen Vorstellung ist die Quellenüberlieferung etwas, was im Laufe der Jahrhunderte in einem beinahe natürlichen Prozess ausdünnt. Ist es nicht so, dass wir um so weniger Quellen haben, je weiter wir in der Zeit zurückgehen? Die Antwort lautet: Nein, ist es nicht. Die "Realität" der Quellenlage ist um einiges komplizierter – und spannender.
In den späten 1990er Jahren geriet ein gewisser Heribert Illig in die Schlagzeilen mit seiner These, dass Karl der Große nie existiert habe und 300 Jahre der mittelalterlichen Geschichte schlichtweg Erfindung seien. So abenteuerlich das auch klingen mag – ein Blick auf diese Kontroverse hilft zu verstehen, wie Geschichte als Wissenschaft arbeitet. Und wie sie als Wissenschaftsbetrieb funktioniert.
Das Mittelalter ist eine finstere Epoche, die nur gelegentlich durch den Feuerschein der Scheiterhaufen erhellt wurde, auf denen fanatische Inquisitoren Ketzer und Hexen in Massen verbrannten. Das weiß jeder – aber woher eigentlich? Wenn man mal die "Belege" aus Film und Literatur ignoriert und sich über die Fachliteratur einen Weg zurück durch die Zeit bahnt, kommt man zu sehr, sehr überraschenden Ergebnissen.
Was heißt "Alterität", was bedeutet die Auseinandersetzung mit der "Andersartigkeit" des Mittelalters, mit der "kulturell-historischen Distanz zwischen Mittelalter und Moderne"? Und wieso soll das bitteschön so wichtig sein? Auftritt der französischen und englischen Könige des Mittelalters, die als Bestandteil ihres Krönungszeremoniells ganz selbstverständlich Skrofulose-Kranke heilten...
Ist man sich der "Andersartigkeit" des Mittelalters erst einmal bewusst geworden und glaubt sich so als Historiker auf der sicheren Seite, schlagen einem die Quellen die Geschichte ins Gesicht: Mit einer Ritterliga, die Turniere auf dem Niveau modernen Hochleistungssports betreibt, als großes Spektakel und Geschäft, inklusive effizienter PR-Arbeit, Teamkapitänen, Spielerwechseln und Nationalmannschaften.
Sprache ist zentrales Medium und wichtigstes Handwerkszeug der Historiker: Sie beschäftigen sich (anders als Archäologen) vornehmlich mit Quellen, die sprachliche Produkte fixieren; und darum ist die Sprache auch das wichtigste Instrument zur Recherche, Analyse und Interpretation der Geschichte. Was aber, wenn man sich bewusst macht, dass auch Sprache – ja, jeder einzelne Begriff – eine Geschichte hat?
Antike, Mittelalter, Neuzeit. Frühmittelalter, Hochmittelalter, Spätmittelalter. Die Jahrhunderte lassen sich leichter greifen, wenn man sie aufteilt und kategorisiert. Das ist nur all zu menschlich, und daher wird die Frage nach den Abgrenzungen und Kategorisierungen auch immer wieder kritisiert und diskutiert, was dann zu neuen Grenzziehungen führt – oder aber gleich zu Konzepten, die auf Grenzen völlig verzichten.
Skandal! Mindestens 50% der Urkunden der Merowingerzeit sind gefälscht! Schätzungsweise 15-20% aller Urkunden des Mittelalters sind Fälschungen – und die Urkunden sind wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Muss nun die Geschichte komplett neu geschrieben werden? Auch hier lautet die Antwort: Nein. Weil Fälschungen wahr sein können und Originale manchmal lügen.
Wissen wir heute nicht mehr als unsere Vorfahren? Haben wir uns nicht kulturell, politisch und wissenschaftlich weiterentwickelt? Sind Elektrizität, moderne Medizin, die Menschenrechte oder Demokratie nicht Errungenschaften, die klare Belege für menschlichen Fortschritt im Verlauf der Geschichte bieten? Was eigentlich kaum zu bezweifeln ist, beeinträchtigt die Arbeit des Historikers jedoch erheblich, denn er ist ein "rückwärts gewandter Prophet".
Mit den Kreuzzügen hatte sich das Vorurteil der Muslime gegenüber den abendländischen Christen als blonde, stinkende und ungehobelte Barbaren größtenteils bestätigt. Für den lateinischen Westen jedoch war diese relativ kurze, dafür überaus brutale Phase der Geschichte ein Crashkurs in Wissenschaft, Kultur und Militärwesen – und der erste intensive Kontakt mit einer bislang unbekannten Kultur. Wir fragen uns: Kein Kennenlernen ohne Gewalt?
Historische Romane haben Hochkonjunktur, und Historienfilme verkaufen sich so gut wie eh und je. Dass Historiker mit den dort gebotenen Darstellungen der Vergangenheit nicht immer zufrieden sind, versteht sich von selbst. Wie aber geht man als Historiker damit um, wenn man bedenkt, dass für Jugendliche heute ganz klar der Film die primäre Sozialisationsinstanz für historisches Wissen ist?
Dr. Peter Gorzolla
Norbert-Wollheim-Platz 1
Raum IG 3.355
60629 Frankfurt a.M.
Tel. +49 (0) 69 / 798-32579
Fax +49 (0) 69 / 798-32604
p.gorzolla@em.uni-frankfurt.de
![]() |
![]() |
![]() |