Personalentscheidungen durch Wettbewerb: Examina für den öffentlichen Dienst in Frankreich und Großbritannien 1850-1950

Projektbeschreibung

Das Projekt erfüllt eine Scharnierfunktion zwischen den Vorhaben, die sich auf geistliche Positionen konzentrieren, und denen zu moderner Bürokratie und Unternehmen. Durch den Fokus auf eine spezielle Form der Leistungsprüfung untersucht es, wie traditionale Formen der Feststellung von Kompetenz, die – mit Blick auf theologische Kenntnisse – in kirchlichen Kontexten traditionell eine zentrale Rolle einnahmen, für säkulare Zwecke aufbereitet werden konnten, ohne dass durch eine reine Wissensprüfung die Frage beantwortet gewesen wäre, in wie weit Aspekte der „Berufung“ und der „charakterlichen Eignung“ die bislang oft unter standestypischen Eigenschaften verortet worden waren berücksichtigt werden mussten und wie sie in Prüfungsverfahren integriert werden konnten. In die Zukunft gerichtet stellten die Einstellungs- und Beförderungspraktiken staatlicher Behörden Muster bereit, die von Unternehmen als Vorbilder für die Auswahl von „Fabrikbeamten“ verwandt wurden, denn sie waren öffentlich relativ gut bekannt und ihre Vor- und Nachteile wurden öffentlich intensiv diskutiert. Insofern erlaubt erst die detaillierte Studie der Rekrutierungsmechanismen der staatlichen Bürokratie die genauere Bewertung der Praxis in Unternehmen, da es sonst schwierig wird, spezifisch unternehmerische Praktiken zu identifizieren.

Es ist bekannt, dass im Verlauf des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern Regeln für Personalentscheidungen im ‚öffentlichen Dienst‘ eingeführt wurden, die ähnliche Missstände auf analoge Weise beheben sollten. Die Reformen richteten sich gegen einen zentralen Aspekt der ‚alten Korruption‘, die eng mit der Struktur der Ämterpatronage in ständischen alteuropäischen Gesellschaften verwoben war. Intransparente Entscheidungsprozesse, für die Rang, Namen und Vermögen eine überragende Rolle spielten, verhinderten, so die bereits zeitgenössische Kritik, die Auswahl der talentiertesten Bewerber für den immer wichtiger werdenden Staatsdienst – und brachten das eigene Land gegenüber progressiveren Rivalen ins Hintertreffen. Obgleich relativ rasch wechselte, welche Länder und Personalentscheidungen als besonders vorbildlich galten, war die dominante Tendenz unverkennbar: An die Stelle traditionaler Mechanismen traten zwei neue Verfahren. Für die Auswahl politischer Amtsträger spielte die Wahl unter immer breiterer Beteiligung der (männlichen) Bevölkerung eine zunehmende Rolle); für ‚unpolitische‘ Ämter in der Verwaltung setzte sich dagegen die Überprüfung der notwendigen Befähigung durch Examina durch. In beiden Bereichen gab es aber große Unterschiede, was Chronologie, Reformintensität und vor allem die Abgrenzung der ‚politischen‘ und der ‚unpolitischen‘ Sphären betraf.

Das vorliegende Projekt stellt anhand eines britisch-französischen Vergleichs drei Fragenkomplexe in den Mittelpunkt:

1. Unter welchen Umständen kam es für welche öffentlichen Aufgaben zur Etablierung von kompetitiven Auswahlverfahren, und wann setzte sich die Kritik an diesem Modus der Personalauswahl durch? Geschah dies im Rahmen derselben Semantiken, so dass das Verfahren zwar auf allgemeine Akzeptanz stieß, aber die Ergebnisse (etwa im Vergleich mit anderen Behörden oder Ländern) als verbesserungsfähig galten, oder richtete sich die Kritik gegen eine Missachtung wichtiger, aber nicht direkt an Prüfungsleistungen gekoppelter Elemente der Qualifikation?

2. Wie wurden Prüfungsverfahren institutionalisiert? Blieben diese Verfahren über die Zeit hinweg mehr oder weniger Konstant, oder veränderten sie sich deutlich – etwa mit Blick auf das Wechselspiel von charakterlicher und gesundheitlicher Vorprüfung, Examensleistungen, Empfehlungen und Beurteilung während der Ausbildung oder im aktiven Dienst? Wann veränderten sich die zu überprüfenden Kenntnisse – wann und warum wurden sie an veränderte Anforderungen angepasst? Wie war das Verhältnis zwischen für die Spitze des gesamten öffentlichen Diensts verbindlichen und der auf bestimmte Aufgaben zugeschnittenen Examensinhalte?

3. Wie funktionierten die Prüfungsverfahren konkret? Unterschieden sich die sozialen Profile der erfolgreichen und der weniger erfolgreichen Bewerber (und später Bewerberinnen) signifikant? Wie wurde die Prüfungspraxis von den Betroffenen, den Experten und der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen?

Auf der Basis der Antworten auf diese Fragenkomplexe sollte es möglich sein, zu klären, ob es sich beim britischen und französischen Examenswesen in der Tat um ähnliche Lösungen einer Kompetenz- und Vertrauenskrise des öffentlichen Dienstes handelte, die im Wesentlichen wegen ihrer unterschiedlichen politischen Bewertung und der unterschiedlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg auf Dauer oder zur Disposition gestellt wurden, oder ob es sich um eher vordergründig verwandte Reformen handelte, die aber letztlich unterschiedliche Ziele verfolgten. Außerdem wird es möglich sein, die derzeit dominante Forschungshypothese, dass Veränderungen der Semantiken und praktische Reformen in engem Zusammenhang standen, und dass Normen und Praktiken relativ eng aufeinander bezogen blieben, zu bestätigen oder zu wiederlegen.

Kontakt

Projektleitung:

Prof. Dr. Andreas Fahrmeir


Tel.: +49 (0)69 798-32626
Fax: +49 (0)69 798-32614
fahrmeir@em.uni-frankfurt.de


Wissenschaftliche Mitarbeiterin:

Dr. Annika Klein


Tel.: +49 (0)69 798-32631
Fax: +49 (0)69 798-32614
a.klein@em.uni-frankfurt.de