Examen für den öffentlichen Dienst in Großbritannien 1850-1950

Examen für den öffentlichen Dienst in Großbritannien 1850-1950

In Großbritannien führte die wachsende Kritik an der Persistenz von Patronagenetzwerken in Verbindung mit zunehmenden Zweifeln an der Konkurrenzfähigkeit der eigenen Bildungssysteme und der Leistungsfähigkeit des „civil service“ 1854/55 zu einer Untersuchung, die unter anderem unter Verweis auf die Praxis in einigen britischen Behörden und an französischen Universitäten die Einführung kompetitiver Examina für den Eintritt in den gesamten „civil service“ empfahl. An die einmal erfolgte Aufnahme sollte sich die Beförderung nach Leistung anschließen, ein späterer Quereinstieg entsprechend nur unter prinzipieller Zustimmung der ständigen Prüfungskommission möglich sein. Auch in Großbritannien wurde das System von Zeit zu Zeit modifiziert, und seine Reichweite tendenziell erweitert. Beide Modelle der Personalentscheidungen setzten sich von dem in anderer Hinsicht attraktiven preußisch-deutschen Modell ab, da es zu viele Prüfungen ohne kompetitive Momente enthalte und daher einem zu großen politischen Einfluss unterliege – was sich insofern bestätigte sollte, als dort in einigen Bereichen selbst der prinzipielle Zwang, eine bestandene Prüfung vorweisen zu können, wieder aufgehoben wurde, als er Rekrutierung nach dem Klientelprinzip entgegenzustehen drohte.

Im Rahmen des Projekts wurden bislang die publizierten Berichte der Civil Service Commission (künftig: CSC) sowie die in den National Archives in Kew aufbewahrten überlieferten Akten der Behörde für die Zeit zwischen ihrer Gründung 1855 und dem Zweiten Weltkrieg durchgesehen und weitgehend ausgewertet. Sie gewähren einen – allerdings mit fortschreitender Institutionalisierung und Wachstum der Behörde immer selektiver werdenden – Einblick in interne Arbeitsabläufe, quantitative Ergebnisse der Prüfungsverfahren, interne Reformdiskussionen sowie Aushandlungsprozesse mit Ministerien (vor allem Treasury und India Office) und die Interaktion mit anderen Akteuren mit einem Interesse an Ablauf, Ausgestaltung und Ergebnissen der Prüfungsverfahren (Universitäten, Schuldirektoren, Angehörige wissenschaftlicher Gesellschaften, seit der Zwischenkriegszeiten auch kommerzielle Anbieter von Wissens- und Eignungstests).

Daraus ergab sich ein guter Überblick über die Entwicklungen, die von drei Tendenzen bestimmt waren. Obgleich die CSC eingerichtet wurde, um sicherzustellen, dass Personen bei ihrem Eintritt in den britischen öffentlichen Dienst künftig durch ihr Alter, ihre Gesundheit und ihren Charakter sowie – an vierter und letzter Stelle – ihre intellektuellen oder praktischen Fähigkeiten die Gewähr boten, ihr Gehalt und ihre eventuelle Pension wert zu sein, konzentrierte sich die CSC sehr schnell vor allem auf den vierten Punkt. Nur eine Minderheit der Bewerberinnen und Bewerber wurde aufgrund eines Überschreitens von Altersgrenzen, gesundheitlicher Bedenken oder eines schlechten Leumunds (unter den auch Täuschungsversuche bei Prüfungen fielen) abgelehnt; die Mehrheit scheiterte an inhaltlichen Anforderungen. Somit entwickelte sich die CSC unmittelbar zu einer Behörde, die unter Hinzuziehung externer Experten vor allem Richtlinien für und Inhalte von Prüfungen entwarf. Die zentralen Mitarbeiter der Commission (die Commissioners selbst und die „Directors of Examination“) interessierten sich vor allem für Inhalte und Ergebnisse der Prüfungen für die obersten Karrierestufen. Diese ‚Prüfungskompetenz‘ führte dazu, dass den Commissioners weitere Zuständigkeiten übertragen wurden, so bereits 1858 die Durchführung der Aufnahmeprüfungen für den Indian Civil Service. Seit 1871 wurde die CSC gelegentlich, seit 1876 dauerhaft als Dienstleister mit der Auswahl von Bewerbern für die Militärakademien in Sandhurst und Woolwich betraut, ebenso mit der Auswahl von Kandidaten für den „östlichen“ Kolonialdienst und seit 1886 für den öffentlichen Dienst Jamaikas.

Die CSC übernahm somit für staatliche Ämter eine ähnliche Funktion wie das Oxford and Cambridge Examination Board für den schulischen und privaten Sektor: Sie bot ein breites Spektrum von Kompetenzprüfungen und relativen Leistungseinschätzungen an, die von einfachen manuellen Tätigkeiten (wie dem Sortieren von Briefen) über spezialisierte handwerkliche Fähigkeiten (wie Buchbinden) bis hin zu intellektuellen Spitzenleistungen (die Verwaltung eines Weltreichs) reichten. Binnen etwa 30 Jahren entstand so eine Behörde mit mehr als 30 festen Mitarbeitern, die bald mehrere zehntausend Prüfungen im Jahr abwickelte. Quantitativ machten Wettbewerbe und Prüfungen für Schlüsselpositionen darunter zwar nur eine Minderheit von je unter 500 Fällen für den öffentlichen Dienst Großbritanniens und Indiens sowie einiger hundert Kadettenprüfungen aus, diese stehen aber nicht nur im Mittelpunkt dieses Projekts, sondern sie generierten auch intern wie extern die meiste Aufmerksamkeit.

Institutionell wurde die CSC zunächst mit der Überprüfung von Fähigkeiten im Rahmen eines Patronagesystems betraut. Kandidaten für ein Amt wurden auf Vorschlag der Leitung einer Behörde auf Fähigkeiten geprüft, welche ebenfalls durch diese Behörde festlegt wurden. Besonders mit dem Außenministerium ergaben sich daraus intensivere Auseinandersetzungen über die Notwendigkeit elementarer Kompetenzen (etwa einer lesbaren Handschrift oder der Fähigkeit zur korrekten Rechtschreibung) sowie über die bei Sprachtests anzulegenden Maßstäbe (Konversation oder Kenntnis politischer Begriffe). Die Ministerien plädierten typischerweise eher für niedrige, die CSC eher für höhere Maßstäbe. Ob die in der Öffentlichkeit von Anfang an stark betonten (Trollope 1859) wettbewerblichen Potentiale des Verfahrens genutzt wurden, lag – außerhalb der Wettbewerbe für den indischen öffentlichen Dienst – im Belieben der Minister, die für jeden Posten nur einen oder mehrere Kandidaten nominieren konnten. Nur bei mehreren Nominierten wurde die Personalentscheidung den Prüfern der CSC überlassen, da diese eine verbindliche Rangliste erstellten.

Der Impuls für den Übergang zu einem offenen wettbewerblichen Verfahren ohne vorherige Nominierung kam von der CSC, die 1856 erstmals eine Stelle im eigenen Haus auf diese Weise besetzte. Vor allem das Vorbild der kompetitiven Vergabe von Anwartschaften auf Stellen im indischen öffentlichen Dienst erlaubte es der Behörde, die allgemeine Überlegenheit dieses Verfahrens zu reklamieren und durch den statistischen Nachweis zu plausibilisieren, dass in einem allgemeinen Wettbewerb in der Summe Kandidaten mit höheren Punktzahlen zum Zuge kommen würden als bei separaten Auswahlentscheidungen. Im Laufe der 1860er Jahre konnten Parlament, Treasury und Kabinett davon überzeugt werden, ab 1870 zur Vergabe der Schlüsselpositionen („Class I“ bzw. „Higher Division“ clerkships bzw. „Administrative Grade“ Positionen) durch einen offenen Wettbewerb überzugehen, der die „Nominierung“ für konkrete Posten mittelfristig vollständig ersetzen sollte. In einer „literary examination“ in verschiedenen Fächern sollten die besten Kandidaten ausgewählt werden; diese konnten in der Reihenfolge ihrer Leistungen eine der zu einem konkreten Zeitpunkt zur Wahl stehenden Behörden als künftiges Tätigkeitsfeld wählen und würden dort mit der Zeit auf Spitzenposten gelangen. Die Teilnahme an den Prüfungen war im Rahmen der Altersgrenzen völlig offen, allerdings wurde eine Prüfungsgebühr erhoben, die maximal 1% des jährlichen Werts der zu vergebenden Stelle betrug. Das Verfahren sah sich freilich zunächst mit dem Problem konfrontiert, dass die finanzielle und inhaltliche Attraktivität der Stellen sehr unterschiedlich war, was dazu führte, dass zahlreiche erfolgreiche Kandidaten Angebote ausschlugen. Die Konsequenz einer Angleichung der Gehaltsstufen wurde rasch gezogen; später wurden auch die Wettbewerbe für den Zugang zur Spitze der indischen und der britischen Verwaltung sowie der Eastern Cadetships zu einem Wettbewerb kombiniert – bei dem die Erfolgschance für irgendeine Position allerdings vor dem Ersten Weltkrieg bei 40% lag, was der Rhetorik eines besonders scharfen Wettbewerbs nicht ganz entsprach.

Trotz der theoretischen Präferenz für den offenen Wettbewerb konkurrierte dieser weiterhin mit Patronage, da die Nominierung prinzipiell möglich blieb und zentrale Positionen auch mittels eines Kompetenzzertifikats nach „Clause VII“ vergeben werden konnten, das ursprünglich ausschließlich nur Quereinstiege besonders qualifizierter Personen in den öffentlichen Dienst gedacht war.

Trotzdem hatte sich bis 1914 ein System herausgebildet, das die ‚objektive‘ Identifikation der besten Talente für die Verwaltungskarriere durch Serie von Prüfungen vorsah, die gerade nicht auf bestimmte spätere Aufgaben ausgerichtet sein sollten, sondern eine allgemeine Prognose lieferten. Entsprechend vage war die Spezifikationen dessen, was die Prüfungen genau leisten sollten: negativ bloßes Auswendiglernen („cramming“) ausschließen; positiv „a big and acute brain“ (The National Archives, CSC 5/104) identifizieren. Zu klären, ob das gelang, war der CSC in den ersten Jahren ein Anliegen; allerdings zeigte sich rasch, dass verlässliche Daten fehlten. Nur der Indian Civil Service spielte gelegentlich ambivalente Eindrücke zurück. Ein Versuch, das Verhältnis zwischen Prüfungsergebnissen und Leistung im Amt festzustellen, wurde in der Zwischenkriegszeit für die unteren Hierarchiestufen unternommen und ergab keine Korrelation (The National Archives, CSC 5/204); auch als nach dem Zweiten Weltkrieg kurzzeitig Wettbewerbs- und Kooptationsverfahren konkurrierten, waren kaum Unterschiede der prognostischen Fähigkeiten beider Verfahren nachweisbar.

Die öffentliche Sicht auf das Prüfungsverfahren war dagegen fast durchgängig von Kritik geprägt – beginnend mit dem 1859 erschienen Roman „The Three Clerks“ (Trollope 1859), in dem der in den Prüfungen erfolgreiche Kandidat wegen moralischer Defizite, die unmittelbar mit der Bereitschaft verbunden sind, seine Kollegen ausstechen zu wollen, auf eine schiefe Bahn gerät, die im Gefängnis endet, bis hin zu C. Northcote Parkinsons (1958) Bemerkungen zur hinter wechselnden Moden verborgenen Kontinuität der Ergebnisse der Personalentscheidungen, was den sozialen und akademischen Hintergrund der erfolgreichen Bewerber betraf. Auch aus den Universitäten und Schulen wurde gelegentlich sehr scharfe Kritik formuliert; sie ließ allerdings nach, sobald Universitäten oder Schulen in die Vorbereitung auf Prüfungen – oder, im Falle des indischen öffentlichen Dienstes, der Vorbereitung der erfolgreichen Kandidaten auf ihren Einsatz vor Ort – eingebunden wurden.

Intern wurde alsbald weniger über Schwächen des Prüfungsverfahrens als über die Folgen der Verschiebung der Gewichte zwischen Fächergruppen (Naturwissenschaften, Sprachen und Geisteswissenschaften) und Subdisziplinen (lateinische und griechische Prosa oder Verse) für die Chancen der Absolventen bestimmter Universitäten nachgedacht, wobei solche Debatten sowohl durch die Ausweitung des schulischen und universitären Fächerangebots als auch durch die Präferenzen einzelner Minister und Mitarbeiter der Treasury angestoßen wurden. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Zugang zu den Prüfungen nur teilweise über Schulen und Universitäten, teilweise aber auch über private und kommerzielle Vorbereitungsangebote erfolgte.

Die zentrale Zäsur markierte der Erste Weltkrieg. Da sie unter den Bedingungen des Krieges sinnlos geworden waren, weil sich Soldaten im Feld der Prüfung nicht unterziehen konnten, wurden die Wettbewerbe um Stellen im Öffentlichen Dienst ausgesetzt. Nach 1919 schien eine unmittelbare Rückkehr zum bisherigen System nicht möglich, weil die sehr unterschiedlichen biographischen Erfahrungen einen fairen Vergleich ausschlossen; zugleich wurde aber auch deutlich, dass die Annahme, das bisherige Examen habe eine unspezifische, aber für alle Tätigkeitsbereiche gültige Befähigung gemessen, so dass man nach dem Krieg umgekehrt besonders verdiente Offiziere bruchlos in Ministerien übernehmen könne, von beiden Seiten – Militär und ziviler Beamtenschaft – nicht geteilt wurde. Entsprechend traten Vorstellungsgespräche vor Kommissionen, die Angehörige des Öffentlichen Dienstes einschlossen, an die Stelle der Prüfungen. Das stieß auf Kritik derjenigen, die nach dem kompetitiven System ausgewählt worden waren: sie bemängelten den Rückschritt vom Leistungsprinzip zu einem Verfahren, das eher für Patronage und Kooptation offen war, und setzten so die Rückkehr zu den neutralen Prüfungen durch. Diese wurden mit Beginn des Zweiten Weltkriegs erneut ausgesetzt und dann endgültig durch „Prüfungen“ in Form von Vorstellungsgesprächen mit Prüfungselementen abgelöst, obgleich deren sozial deutlich größere Selektivität rasch zutage trat – was vielleicht angesichts des Rahmens von 21 Bediensteten, die jeweils rund 24 bis 28 Kandidaten während der Auswahltermine betreuten, nicht unbedingt verwundert.

Während das Material zur Institutionalisierung von Personalentscheidungen umfassend ist, erwies sich der Zugang zu den Praktiken als schwierig. Die CSC beschloss früh, die eigentlichen Prüfungsunterlagen mangels historischen Interesses zu makulieren. Entsprechend enthalten die zu einzelnen Personen erhaltenen Akten meist nur Angaben zu den Nachweisen von Alter, Gesundheit und Leumund, nicht aber die Prüfungsunterlagen. In den wenigen Akten, in denen diese verblieben, findet sich in der Regel nur die numerische Bewertung der Leistung, ohne jeden Hinweis darauf, wie sie zustande kam. Der Versuch der Rekonstruktion von Praktiken erweist sich daher als aufwändiger, und soll im Mittelpunkt des Arbeitsprogramms zu Großbritannien in der zweiten Phase stehen.

Prof. Dr. Andreas Fahrmeir


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