Der Blick “ex post” - Fehlentscheidungen in der Personalpolitik des Spätmittelalters

Der Blick “ex post” - Fehlentscheidungen in der Personalpolitik des Spätmittelalters

Gerade bei der komplexen Beziehung zwischen päpstlicher Kurie, Fürsten und Kathedralkapiteln schält sich die Häufigkeit von problematischen Einzelfällen (Translationen, Vakanzen, verschleppte Inbesitznahmen usw.) heraus. Von daher sollen über die Mechanismen bis zu einer Personalentscheidung hinaus nun die Gründe für einen erfolgreichen oder gescheiterten Abschluss eingehender behandelt werden, und zwar mit einem Schwerpunkt auf der Diagnose des Scheiterns und ihren praktischen Folgen. In diesem Zusammenhang muss zunächst der Begriff ‘Fehlentscheidung’ in einer Typologie näher beleuchtet werden. Ausgangspunkt dafür sind Entscheidungen, die sich post factum und de facto als gescheitert erwiesen, etwa bei Amtsverzicht, Translation, Scheinpromotion (“promovetur ut amoveatur”), Absetzung als Folge einer inquisitio bis hin zur ultima ratio einer gewaltsamen Beseitigung des Gewählten. Kontingenzbewältigung nach dem Grundprojektentwurf der Forschergruppe wird also nicht nur bei, sondern auch nach den Personalentscheidungen untersucht werden - der Blick „ex post”. Es wird darum gehen, Fehlentscheidungen in Bezug auf die möglichen Modi ihrer Invisibilisierung, also die Art, die Unvorsehbarkeit ihrer Folgen einzugrenzen, zu untersuchen.
In vielen Fällen ließ sich die Kontingenz einer ‘Fehlentscheidung’ mittels besonderer Verfahren und Regeln für die Ämtervergabe mit Sicherungsklauseln kanalisieren (z.B. wurde in Venedig der Verzicht auf officia streng normiert: entweder ganz verboten oder mit Strafandrohung versehen). Das ist eine Art der Risikostrukturierung, die im Kontext der jeweiligen Personalentscheidung ihre individuelle Würdigung verdient: wie ‘Fehlentscheidungen’ die zukünftige Auswahl beeinflussen konnten, damit unbefriedigende Ergebnisse der Vergangenheit in Zukunft sich möglichst nicht wiederholten. Zusammengefasst geht es um die Dynamisierung und Strukturanpassung durch Scheitern im späten Mittelalter im kirchlichen Bereich.

Der Verlauf der Untersuchung sieht vor diesem Hintergrund die vergleichende Behandlung von formell gescheiterten Bischofsernennungen und von prozessförmigen Verfahren gegen ‚gescheiterte‘ kommunale officiales vor. Dabei wird mit den entsprechenden Akten eine spezifische Quellenart herangezogen, die unter dem Gesichtspunkt der ‘Fehlentscheidungen’ bislang noch nicht berücksichtigt worden ist und für das Gesamtvorhaben der Forschergruppe einen hohen Ertrag verspricht.
Im geistlichen Bereich sollen weniger prominente, aber besonders signifikante Beispiele für den berühmten “Mord in der Kathedrale” herangezogen werden, nicht ausschließlich im 12. Jahrhundert, etwa Adelpretus von Trient, Cacciafrons von Vicenza u.a.; Beispiele für eine renunciatio, wie bei Abelhard von Verona, die in der Regel eher von Angehörigen der Bettelorden ausgeübt wurde, aber auch der erzwungene Amtsverzicht wie z.B. bei Nicolaus Lercari von Ventimiglia, die Absetzung und die faktische Entmachtung Obertos von Albenga, etwa durch einen Administrator (wobei das Verfahren von dessen Bestellung näher zu prüfen ist, wie bei Pilius de Marini in Genua). Unter den Quellen sind die päpstlichen inquisitiones während des 13. und 14. Jahrhunderts von spezifisch prozessualer Art, die in dieser Typologie mit den sogenannten sindicati bei den Kommunen (s. unten) vergleichbar sind: sie erlauben, diskursive Formen und institutionelle Strukturen des Umgangs mit ‘Fehlentscheidungen’ auszuloten.
Diese von Frau Rando selbst auszuführende Untersuchung versteht sich als Weiterführung der vorherigen Forschung und ist komplementär zur Bearbeitung der städtischen Quellen durch Frau Cengarle. Gemäß dem Ansatz der Forschergruppe wird sich die Recherche auch hier zuerst auf der Ebene der Semantik bewegen.
Vor allem in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts lassen sich die Statuten und die kommunalen Anordnungen in den italienischen Städten, z.B. die Ordinamenta iusticie in Florenz 1294-95, aber auch die Statuten in Padua mit Rubriken von 1270, ausführlich über sindicatus und mögliche Anklagepunkte bei Amtsträgern und städtischen Magistraten aus – besonders den Missbrauch in der Amtsführung, bei öffentlichen Geldern (baratteria), Fälschungen, Korruption, Veruntreuung, Verquickung von politischen und privaten Interessen. Die Historiographie hat sich schon oft mit dieser Thematik beschäftigt, aber die hier einzunehmende Perspektive sollte eine andere sein: Normen als Teil eines Sicherungssystems und der Risikostrukturierung sowie Kontingenzbewältigung, die oben erwähnt wurden.
Die Statuten ermöglichen eine Analyse der Institutionen; darüber hinaus sollen die Praktiken einer vertieften Prüfung unterzogen werden. In einigen Städten Mittelitaliens wurden sindicati von Fall zu Fall von einer dazu speziell eingerichteten Magistratur erlassen, deren Dokumentation erhalten ist. Ein Sonderfall in Bezug auf Ursprung und Inhalt überliefert das corpus der Verbannungsurteile durch den Podestà Cante Gabrielli von 1302 in Florenz, u.a. das berühmte Verfahren gegen Dante Alighieri. Jenseits der politischen und kulturellen Implikationen (zur aktuellen Meisterzählung der “politica dell’esclusione”) sollten Prozedere, Anklagepunkte, erlassene Urteile und deren “Nachhaltigkeit” herangezogen werden. Sindicatus und Urteilsfindung werden dabei über die Semantiken von Erfolg und Scheitern, die sich aus ihnen ergeben, in Zusammenhang mit der Rekonfigurierung der Auswahlmodi bei neu zu bestimmenden Amtsträgern gebracht, die in den Kommunen immer wieder neu beraten und der jeweiligen Situation angepasst wurden, so dass ein dichtes Bild der Interaktion zwischen Erfahrungen des Scheiterns und Neujustierung von Entscheidungsverfahren gezeichnet werden kann.

Kontakt

Prof. Dr. Daniela Rando


Università degli Studi di Pavia
Tel.: +39 (0)382 984461
daniela.rando@univ.it


Dr. Federica Cengarle


Università degli Studi di Pavia
Tel.: +39 (0)338 4596758
federica.cengarle@tiscali.it