Wissen, Wissensformen und Wissenstransfer im sozioökonomischen Strukturwandel der Bundesrepublik Deutschland

Teilprojekt F5 im DFG-Sonderforschungsbereich/Forschungskolleg 435 "Wissenskultur und Gesellschaftlicher Wandel"

Bearbeiter:

  • Tim Schanetzky (Wirtschaftspolitik, abgeschlossen)
  • Stefanie Lechner (Hochschulpolitik)
  • Mark Jakob (Familienpolitik, abgeschlossen)

Projektbeschreibung

Die gut 30 Jahre zwischen dem Ende des Wirtschaftswunders und dem Mauerfall stellen eine Phase beschleunigten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels dar. In diese Zeit fallen eine Reihe von Krisenerfahrungen und Umbrüchen, denen die Zeitgenossen nur unzureichend mit Hilfe etablierter Wissensmodelle begegnen konnten. Dazu zählen etwa: die erste Nachkriegsrezession Mitte der 60er Jahre und die Ölkrise 1973/74; der sogenannte "Pillenknick" ab 1967; der "Bildungsboom" der 60er Jahre, der eine Umstrukturierung der Hochschulen nach sich zog.

Das Projekt erforscht die Entwicklungen des Gesellschaftsbegriffes im Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Politik, die sich in der Phase des sozioökonomischen Strukturwandels von den 60er bis zu den 80er Jahren beobachten lassen. Dieser Frage wird durch die Untersuchung der Institutionen, der Positionen und des Stellenwertes der wissenschaftlichen Politikberatung auf den Gebieten der Wirtschafts-, Hochschul- und Familienpolitik nachgegangen. Die ausgewählten Bereiche stellen drei zentrale und bereits zeitgenössisch kontrovers diskutierte Konfliktfelder dar, in denen sich die Folgen des sozialstrukturellen Wandels unmittelbar in einer Entwertung traditionellen Wissens und einer hektischen Suche nach neuem Wissen niederschlugen.

Die Veränderung des Wissens über die Gesellschaft und der soziale Wandel vollziehen sich stets simultan und aufeinander bezogen. Die rasche und tiefgreifende Veränderung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse löste in den Wissenschaften und in der Politik semantische Reaktionen aus, deren Untersuchung im Mittelpunkt des Projekts steht. Es gilt also herauszuarbeiten, ob und wie genau die sich im Zeitablauf ändernden Wissensbestände über die sich wandelnde Gesellschaft für die Politik handlungsleitend wurden und wie sich die Veränderung des Bezugssystems Wissen auf die Politik auswirkte.

Noch in den 1950er Jahren griff die Politik auf eine ganzheitliche Vorstellung von der Gesellschaft zurück. Diese löste sich im Strukturwandel zusehends auf, und an ihre Stelle trat die Interpretation der Gesellschaft als eigendynamisches Gebilde, das von der Politik über das Setzen von Verhaltensanreizen nur noch marginal beeinflußt werden könne. Die damit verbundene Veränderung politischer Konzepte ist auf das rekursive Verhältnis von Wissenskultur und sozialem Wandel zurückzuführen: Die im Laufe der 1960er und 1970er Jahre modifizierten Vorstellungen von der Reichweite politischen Handelns gehen letztlich auf einen veränderten Gesellschaftsbegriff zurück, der insbesondere über die Institutionen wissenschaftlicher Politikberatung und ihre spezifische Form der Thematisierung sozialen Wandels seit den späten 1950er Jahren verstärkt in die Politik eindrang.

Der Aufbau der Beratungsinstitutionen stellte eine Aufwertung wissenschaftlicher Expertise in der Politik dar. Angesichts der schieren Menge widersprüchlicher Ratschläge folgte diesem Prozeß aber zugleich eine Abwertung jeder einzelnen wissenschaftlichen Expertise. Sukzessive ging die Aussagesicherheit verloren, die das Wissen um die „Gesellschaft“ als eines einheitlichen, steuerbaren und berechenbaren Organismus noch in den frühen 1960er Jahren besaß. Die sich neu etablierende Wissenskultur ließ keinen entsprechenden Gesellschaftsbegriff mehr zu, sondern richtete sich mit einer Vielzahl konkurrierender Vorstellungen ein, während sie ihren Steuerungsanspruch von der Gesellschaft auf das Individuum verlagerte. Diesen Zusammenhang betrachten wir als den zentralen Prozeß im gesellschaftlichen Strukturwandel zwischen den 1960er und 1980er Jahren, den wir provokant als „Abschied von der Gesellschaft“ bezeichnet haben.

Literaturhinweise

  • Stefanie Lechner/Mark Jakob: Der Abschied von der Gesellschaft? Wissen, Wissensformen und Wissenstransfer im sozioökonomischen Strukturwandel der Bundesrepublik Deutschland, in: Jörg Calließ (Hrsg.): Die Geschichte des Erfolgsmodells BRD im internationalen Vergleich (Loccumer Protokolle 24/05). Rehburg-Loccum 2006, S. 179-192.
  • Stefanie Lechner: Gesellschaftsbilder in der deutschen Hochschulpolitik. Das Beispiel des Wissenschaftsrates in den 1960er Jahren, in: Barbara Wolbring/Andreas Franzmann (Hrsg.): Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945. Frankfurt a. M. 2007, S. 103-120.
  • Mark Jakob: Gesellschaftsbilder und Konzepte sozialer Steuerung über öffentliche Erziehung in der Familienpolitik und familienwissenschaftlichen Politikberatung Westdeutschlands, ca. 1950-1980. Ms. abgeschlossen, erscheint voraussichtl. Juli 2008 in: Jutta Ecarius/Carola Groppe/Hans Malmede (Hrsg.): Familie und öffentliche Erziehung. Theoretische Konzeptionen, historische und aktuelle Analysen. VS Verlag, Wiesbaden.
  • Tim Schanetzky: Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966-1982. Berlin 2007. Informationen zum Inhalt
  • Tim Schanetzky: Sachverständiger Rat und Konzertierte Aktion: Staat, Gesellschaft und wissenschaftliche Expertise in der bundesrepublikanischen Wirtschaftspolitik, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 3 (2004), S. 310-331. Abstract

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