Papstwahlen im Spiegel der Konklaveberichte 1623–1800: Deutungen von Gewinnern und Verlierern

Auch wenn einfache Modernisierungsteleologien zur Beschreibung des Wandels von Personalentscheidungen nicht taugen, macht doch der transepochale Vergleich deutlich, dass Verfahrensformen historisch wechselnden Präferenzen und Plausibilitäten unterliegen. So verfolgten die Betreiber der Gregorianischen Konklavereform von 1621/22 ein diametral anderes Konzept als es die Zeremonienmeister der Renaissance getan haben. Die posttridentinische Wahlreform ist jedenfalls dezidiert anti-nepotistisch ausgerichtet. Realisiert wird diese Ausrichtung durch die Aufstellung eines minutiös normierten Regelwerkes, das die definitive Geheimhaltung der Stimmen sowohl in der Phase der Abgabe als auch in der Phase der Auswertung der Voten garantieren sollte. Die Personalentscheidung sollte fortan nicht mehr im Rahmen informeller Aushandlungen, sondern innerhalb eines formalisierten Verfahrens gefällt werden. Die Einführung des Geheimen sollte die Macht der Kardinalnepoten verringern, die Papstwähler aus den Netzwerken der Loyalität befreien und ihnen ermöglichen, individuelle Gewissensentscheidungen rein nach Idoneitätskriterien treffen zu können. Die technische Gewährleistung des Geheimen wurde begleitet durch vielfältige symbolische Inszenierungen, die die Beteiligten gemäß der neuen Werthaltungen zu disponieren und in Verfahrensrollen zu verstricken hatten.

Ganz grundsätzlich sollte die oberste Personalentscheidung in der tridentinischen Kirche nicht mehr von nepotistischen Ethiken der Pietas und durch äußeren Druck bestimmt, sondern aus authentischen und freien Gewissensentscheidungen und vor allem aus einem strikt eingehaltenen, regelgeleiteten Verfahren hervorgehen.

Auf der Basis dieser Befunde kann das Projekt Neuland erschließen. Und zwar soll systematisch untersucht werden, in welcher Form die Praktiken und finalen Entscheidungen der Papstwahlen nach der Reform Gregors XV. mit dem neuen Regelwerk in Bezug gesetzt worden sind. Mit anderen Worten: Inwiefern hat der neue Modus des Wählens im Folgenden zu einer größeren Akzeptanz der getroffenen Personalentscheidungen im Einzelnen und insgesamt zu einem Prestigezuwachs für die Institution Papsttum beigetragen?
Denn wenn auch die neue Form im Kern eingehalten wurde, so war mit dem Erlass eines päpstlichen Dekrets erwartungsgemäß noch längst kein durchgreifender Mentalitäts- und Systemwandel vollzogen. Dementsprechend lassen sich bei den Wahlpraktiken in den Konklaven nach 1621/22 zunächst sowohl seitens der Nepoten als auch seitens der Kreaturen dieselben Denk- und Handlungsmuster in Faktionen der pietas beobachten wie vor der Reform. Und demonstrative Ablehnungshaltungen gegenüber dem neuen Verfahren waren lange noch resistent.
Vor diesem Hintergrund einer bleibenden Debatte über den Sinn der Reform soll der Frage nach dem konstruierten Zusammenhang von neuem Verfahren und den faktisch zustande gekommenen Personalentscheidungen nachgegangen werden. Dies soll auf der Grundlage einer bislang noch recht wenig herangezogenen Quellengattung geschehen, nämlich den bereits genannten Relazioni del Conclave. In der Regel sind diese Berichte von Konklavisten, ausnahmsweise auch von Kardinälen und mitunter sogar von Personen verfasst, die beim beschriebenen Ereignis gar nicht zugegen waren und nur vermittelt ihre Informationen bezogen. Häufig stand hinter der Abfassung solcher Texte nicht in erster Linie der Wille zu historischer Zuverlässigkeit, sondern ein apologetisch-strategisches Interesse oder auch nur die pure Lust an der fantasievollen Generierung von Arkanwissen, das mit der Aufmerksamkeit eines breiten Publikums rechnen konnte. In unzähligen Kopien sind diese Relazioni del Conclave in ganz Europa gestreut worden und lassen sich dementsprechend heute in allen großen europäischen Sammlungen antreffen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden Auszüge daraus erstmalig für den Druck kompiliert und erschienen in der Folgezeit in mehreren verschiedensprachigen Ausgaben.

Im Projekt geht es zunächst darum, in Auswertung der Überlieferung in den vatikanischen und römischen Archiven und Bibliotheken eine möglichst komplette Auflistung sämtlicher Relazioni zu den 17 Konklaven zwischen 1623 und 1799/1800 zu erstellen.
Die Relationen sind zur guten Hälfte zwar anonym verfasst, aber in der Regel lässt sich jeder Text anhand der mehr oder weniger offenen Anti- und Sympathien, anhand von Hermeneutik und Erzählstrategie leicht einem Lager bzw. einer Faktion zuordnen. Damit stehen der Forschung höchst aufschlussreiche Darstellungen des Zustandekommens der Personalentscheidung sowohl seitens der Sieger als auch seitens der Verlierer zur Verfügung.
Primäres Ziel des Unterprojektes ist es, diese verschiedenen Hermeneutiken zu identifizieren, ihre unterschiedlichen Semantiken zu rekonstruieren und diese Texte vor allem daraufhin zu befragen, wie Gewinner und Unterlegene die gefällte Personalentscheidung in Beziehung setzten zum neu institutionalisierten Entscheidungsverfahren. Denn auch wenn es jetzt ein genau kodifiziertes Regelwerk gab, das in jedem Fall „richtige“, weil verfahrensgenerierte Entscheidungen zu produzieren hatte, waren die faktischen Ausgänge der Konklaven auch nach 1621/22 in höchstem Maße kontingent, empirisch weitgehend singulär und in ihrer Richtigkeit oder Falschheit nicht zu kalkulieren. Durch welche Semantiken und Nachrationalisierungen bewältigten Sieger und Verlierer diese Kontingenz? Führten Gewinner wie Verlierer ihren Sieg und ihre Niederlage je positiv oder negativ auf das neue Regelwerk zurück? Wurde das neue antiklienteläre Verfahren auch von jenen positiv angeführt, die es im Kern ablehnten und doch trotz oder mit ihm ihren Kandidaten durchgebracht haben? Welche Muster der Legitimation lassen sich jenseits der „Legitimation durch Verfahren“ in den Konklaveberichten greifen, etwa jenes durch wundersame Zeichen göttlicher Vorsehung? Und wie veränderten sich die Deutungen im Laufe des 18. Jahrhunderts, in dem durch eine zunehmende Einflussnahme der erstarkenden Staaten auf die Papstwahlen auch neue Probleme zu bewältigen waren?
Mithilfe solcher und ähnlicher Frageachsen kann anhand dieser Konklaverelationen ermittelt werden, wie grundlegend die frühneuzeitliche Papstherrschaft durch den Rekurs auf ein normiertes Personalentscheidungsverfahren zumindest legitimatorisch auf neue Weise abgesichert wurde.

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