DFG-Forschungsprojekt

(Please see the English project description below.)

Das kapitalistische Tor zur Welt. Die Handelsbeziehungen zwischen Westdeutschland und den Niederlanden 1740-1806

 

Am Fallbeispiel der Handelsbeziehungen zwischen Westdeutschland und den Niederlanden zwischen 1740 und 1806 sollen im Projekt die wirtschaftliche Entwicklung und das Wirtschaftswachstum Westdeutschlands vom Niederrhein bis zum Rhein-Main-Gebiet analysiert werden.

Als Arbeitshypothese wird davon ausgegangen, dass der um 1740 einsetzende Aufschwung und Modernisierungsprozess der westdeutschen Wirtschaft vor allem durch die stärkere Einbindung in die atlantische Weltwirtschaft und damit verbundene kapitalistische Praktiken hervorgerufen wurde. Die Zunahme des Handelsverkehrs mit den Niederlanden als dem „Tor“ zum Welthandel führte sowohl zur Entstehung eines westdeutschen Großhandels als auch zu einem starken Wachstum zahlreicher Produktionszweige, was meist erst eine standardisierte Massenproduktion und arbeitsteilige Spezialisierung in vielen Gewerbebetriebe möglich machte. Vermutlich beförderten die neuen kaufmännischen Praktiken bereits vor 1800 das Vordringen des Kapitalismus im Westdeutschland. Insgesamt ergeben sich aus diesen Überlegungen folgende Forschungsfragen: Wie entwickelten sich die Handelsbeziehungen zwischen Westdeutschland und den Niederlanden im 18. Jahrhundert und welche Handelsgüter wurden in welchem Umfang gehandelt? Welche Akteure betrieben den Handel und wie entwickelten sich die kaufmännischen Praktiken in Westdeutschland? Welche Bedeutung besaß die Einbindung in die atlantische Weltwirtschaft für die Wachstumsentwicklung des westdeutschen Raums und die spätere Industrialisierung? Diesen Fragen sollen sowohl durch die Auswertung serieller Quellen als auch mit Hilfe von Geschäftsbüchern und Korrespondenzen verschiedener Handelshäuser auf der Mikroebene nachgegangen werden.


"The Capitalist Gateway. Trade between Western German Provinces and the Netherlands, 1740-1806

The project puts context the economic development and growth in the West German region stretching from the Lower Rhine to the Rhine-Main-area in the period 1740-1806 with the trade relations of Western Germany and the Netherlands.
We hypothesize that Western Germany's economic upturn and modernization process beginning about 1740 was prompted mainly by the region being integrated into the emerging Atlantic world economy and the concurrent spread of capitalist practices. The increase in trade with the Netherlands, which served as the “gate” to world trade, lead to the emergence of a German wholesale trade as well as it stimulated the abundant growth of numerous manufacturing branches. Only this expansion of trade made standardized mass production and division of labour in many industries possible. Presumably, the new mercantile practices fostered the advance of capitalism in Western Germany even before 1800.
Manufactured goods usually were sent to distant markets via Dutch port cities, where German merchants benefited from the well-developed and modern infrastructure for trade and financial operations that the first modern economy provided. In consequence, an asymmetric complementary relation emerged between Dutch trade and German manufacture. We suppose that West German merchants became acquainted with progressive Dutch capitalist methods while conduction business, and that these methods spread swiftly in West Germany.
The Netherlands were significant for German imports, too, as the West German regions bought large amounts of colonial goods for consumption there. The import of the new colonial consumption goods and raw materials was often handled by the same merchant houses that exported manufactured goods. Apart from determining the total volume of trade, our study of German imports and exports is to answer the question what significance the new possibilities to consume had for the emergence of capitalist structures. Was the availability of colonial goods a sufficient incentive for an intensification of labour and the implementation of the market principle in everyday life?
Altogether, these deliberations lead to a number of research questions: 1.) How did the trade relations between Western Germany and the Netherlands develop during the 18th century, and which goods were traded in which volumes? 2.) Which actors conducted the trade, and how did mercantile practices develop in West Germany? 3.) In how far was the integration into the Atlantic world economy significant for the economic growth, and later industrialization, of Western Germany? These questions are to be researched on a micro-level by using serial sources as well as business ledgers and correspondence of diverse merchant houses."

 

Handlung, Firma, Unternehmen. Die Entstehung des modernen Unternehmens

Im diesem Projekt soll weiter der bisher vernachlässigten Frage nachgegangen werden, warum Unternehmen erst nach 1800 zur vorherrschenden Organisationsform für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen in den westlichen Volkswirtschaften wurde; diese Institution in der Frühen Neuzeit aber noch keine größere Rolle spielten. Das bisher vorherrschende Verständnis von modernen Unternehmen als industriell-technischer Organisation, die die alleinige Ursache der Entstehung moderner Unternehmen in der industriellen Maschinenproduktion sieht, erscheint als Erklärung nicht ausreichend, da bereits in der Frühphase der Industrialisierung auch zahlreiche Dienstleistungsunternehmen entstanden. Auf Basis eines funktionalen Unternehmensbegriffes wird daher dafür plädiert, stärker die frühmodernen „Protounternehmen“ vor 1800 und die konkreten Voraussetzungen des massenhaften Aufkommen moderner Unternehmen in der Phase der Frühindustrialisierung genauer in den Blick zu nehmen, um so den lang andauernden Prozess der Institutionalisierung des modernen Unternehmens besser zu begreifen.

Im Projekt soll der Fokus u.a. auf die Entwicklung der Unternehmensrechtsformen und die Institutionalisierung der noch neuartigen Wirtschaftsform des modernen Unternehmens im frühen 19. Jahrhundert für den deutschen und österreichischen Fall gelegt werden, da die Entstehung zahlreicher moderner Unternehmen in Deutschland nach 1800 der Einführung gesetzlicher Unternehmensrechtsformen vorausging und ein modernes Gesellschaftsrecht in Deutschland z.B. erst mit dem Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch von 1861 eingeführt wurde. Die Wirtschaftsform des modernen Unternehmens hatte zu diesem Zeitpunkt in Deutschland aber bereits eine weite Verbreitung gefunden und stellte längst eine allgemein akzeptierte Institution des Wirtschaftslebens dar. Wie bereits Werner Sombarts zeigte, stellte die „Verselbständigung“ des Geschäfts vom Inhaber, d.h. die Institutionalisierung der frühen Unternehmen einen sehr langwierigen Prozess darstellte, der nicht sofort mit der Gründung oder der Wahl der Unternehmensrechtsform eines Unternehmens abgeschlossen war.

 

The Rhine Economy. A Transnational Approach and Research Network

Auch in der Wirtschaftsgeschichte werden regionalwirtschaftliche Verflechtungen über die Grenzen des Nationalstaates vielfach negiert; auch hier dominiert weiterhin die nationale Perspektive. Es fehlt vielfach an konkreten Untersuchungen von Wirtschaftsräumen und deren Verflechtungen jenseits der Ebene der Nationalstaaten sowie über die eigentliche Industrialisierungsphase hinaus. Dabei sind die wirtschaftlichen Verflechtungen dieser Wirtschaftsregionen und Großräume vielfach erheblich älter als nationalstaatliche Binnenmärkte und die traditionellen Wirtschaftsverflechtungen bilden geradezu eine ökonomische Pfadabhängigkeit bis in unsere heutige, globale Wirtschaftswelt.

Letzteres lässt sich insbesondere für die Wirtschaftsbeziehungen für den Wirtschaftsraum des Rheines zwischen Rotterdam und Basel konstatieren, die bereits seit dem Mittelalter existieren. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkten sich diese Handelsbeziehungen und es entwickelte sich eine symbiotische Raumökonomie, bei dem die Regionen im Hinterland Rohstoffe (Kohle, Holz etc.) sowie gewerbliche Halb- und Fertigwaren (Eisen, Textilien) in die Niederlande exportierten bzw. über die dortigen Häfen die Weltmärkte belieferten. Im Gegenzug flossen die neuartigen Kolonialwaren, auswärtige Rohstoffe (Baumwolle etc.) und landwirtschaftliche Güter aus und über Holland in die westdeutschen, Schweizer und elsässischen Regionen hinein. Dieses Strukturmuster und die regionale Arbeitsteilung verstärkten sich mit dem Aufkommen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und hielten faktisch bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an. Der wirtschaftliche Strukturwandel seit den 1960er Jahren, d.h. das Lösen der westdeutschen Wirtschaft von Kohle und Eisen, bedeutete aber nicht den Niedergang der Handelsbeziehungen, sondern nur eine Verschiebung der Strukturen. Weniger Kohle, Eisen und Kolonialwaren, denn bundesrepublikanische Ölimporte, niederländisches Gemüse und Blumen oder aber Konsumgüter aus Übersee strömen weiterhin über die Niederlande ins Hinterland, während das niederländische Königreich vor allem Erzeugnisse des Maschinenbaus, Autos oder Chemikalien abnimmt. Es zeigt sich auch heute noch eine ungebrochene Bedeutung dieser regionalen Wirtschaftsverflechtung in Zeiten der Globalisierung. Deutlich zeigt sich dabei, dass der Rhein seine Funktion als Verkehrsmittel und wirtschaftsraumgestaltende Kraft bis nach Südwestdeutschland, Belgien, dem Elsass und die Nordschweiz ausgedehnt hat. Er stellt daher mittlerweile nicht nur den kommerziell am stärksten genutzten Wasserweg Europas mit einer Schiffbarkeit von Rotterdam bis Basel dar.

Die wirtschaftsgeschichtliche Untersuchung dieser Verflechtungen ist bisher nur unzureichend erfolgt und wenn, dann zumeist nur auf nationaler Ebene. Ebenfalls vernachlässigt wurde bisher die Einbeziehung der Unternehmensebene. Die unternehmensgeschichtlichen Analysen dienen dabei vor allem dazu, die Rolle der Unternehmen als handelnde Akteure – Akteure, die den Strukturwandel vorantreiben und die Wirtschaftsbeziehungen im Einzelnen gestalten ‑ in den Blick zu nehmen. Die Berücksichtigung der Unternehmen erlaubt zudem, auch wenig offensichtliche Wirtschaftsverflechtungen jenseits von nationalstaatlichen Statistiken und Makrogrößen offen zu legen, sondern gleichzeitig durch die Verknüpfung von Makro, Meso- und Mikroebene die lokalen und regionalen Standortbedingungen und Faktormärkte sowie die Fern- und Weltmärkten herauszuarbeiten. So kann man konkret die Entscheidungen sowie Entscheidungsträger in die Analyse mit einbeziehen und den wirtschaftlichen Wandel und seine Ursachen integrativ mit interdisziplinären Methoden analysieren. Schließlich lassen sich die ökonomischen Wertschöpfungsketten auch am besten auf der Mikroebene der Unternehmen kausal erklären bzw. die Schwierigkeiten der Handelsverbindungen in einzelnen Phasen deutlich machen.

Betrieben wird das Projekt mittlerweile seit acht Jahren in einer Zusammenarbeit zwischen dem Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Historischen Seminars der Goethe-Universität mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Erasmus Universität Rotterdam. Bisher wurden bereits sechs internationale Konferenzen seit 2009 organisiert, die erfolgreich vor allem zur Schaffung eines internationalen Forschungsverbundes und wissenschaftlichen Netzwerks dient. Geplant sind im Moment weitere Konferenzen und ein größeres Forschungsprojekt zum Thema der River Econmies, in der die Rheinökonomie u.a. auch mit anderen Flussökonomien (Donau, Yangtse, Mississippi etc.) verglichen werden soll.