Examen für den öffentlichen Dienst in Frankreich 1850-1950

Im Laufe des 19. Jahrhunderts etabliert sich der Wettbewerb in Frankreich als ein dominanter Modus für Personalentscheidungen, die den Zugang zu öffentlichen Dienst regeln. Das gilt sowohl für Ausbildungsstätten wie die „Grandes Écoles“ als erster Stufe einer Beamtenkarriere wie auch für weitere Qualifikationsschritte oder die Vergabe von Posten in Ministerien. Der „concours“ existierte als Auswahlmechanismus zwar schon im Ancien Regime, ließ sich aber hervorragend an die Ideale der Revolutionäre anpassen: Er erlaubte es, Kandidaten auf Grund meritokratischer Kriterien auszuwählen statt auf der Basis ihrer Abstammung oder ihres Standes.

Die Mechanismen dieser Auswahl waren außerdem bekannt, transparent und unterlagen keinen willkürlichen Veränderungen. Sie ließen sich also positiv gegen Systeme abgrenzen, in denen Personalentscheidungsprozesse eher auf „Korruption“ und Patronage basieren. Der Concours blieb aber auch in den nicht-republikanischen Phasen des 19. Jahrhunderts eine attraktive Option, denn unabhängig von Vorstellungen einer möglichst egalitären Partizipation am politischen System sahen sich auch Monarchien in zunehmendem Maße mit der Aufgabe konfrontiert, aus einer wachsenden Menge von Kandidaten diejenigen auszuwählen, die in immer komplexer werdenden Strukturen am besten zu funktionieren versprachen. Der Wettbewerb schien dafür optimale Möglichkeiten zu bieten: Große Mengen an Kandidaten ließen sich durch mehrstufige und dezentral stattfindende Examen bewältigen, die Anzahl der Plätze konnte auf Bedarf und Budget zugeschnitten werden und die Prüfungsinhalte ließen sich ebenfalls auf die jeweils erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse zuschneiden.

Erste Projektphase:

Die École normale supérieure (ENS) wurde als Beispiel für den Zugang zum öffentlichen Dienst durch den Concours einer Grande École ausgewählt. Die ENS bildet Lehrende für die höheren Schulen aus und besteht als eigenständige Institution seit 1830, gründet sich aber auf diverse Vorgängerversionen mit revolutionärem Ursprung. Der Zugang zur ENS wurde während des gesamten Betrachtungszeitraumes durch einen Concours geregelt, der sich in seinen grundlegenden Strukturen kaum veränderte.

Auf der Ebene der Semantiken hat sich dabei gezeigt, dass der Concours der ENS weniger von großen Debatten und deutlichen Zäsuren als von langfristigen Kontinuitäten geprägt war. Eine Auswertung interner Korrespondenzen der Instruction publique sowie von Parlamentsdebatten und über das „Gallica“-Portal der BNF zugänglichen digitalisierten Zeitungen machte deutlich, dass im Rahmen öffentlicher und institutioneninterner Debatten durchaus Kritik geäußert wurde. Die Themen reichten von Prüfungsinhalten über fehlende soziale Egalität bis hin zu der Frage, ob nicht auch die akademischen Strukturen der Grandes Écoles zur französischen Niederlage von 1871 beigetragen hätten. Es handelte sich aber um Kritik an einzelnen Aspekten des Verfahrens und nicht um eine grundsätzliche Infragestellung des Wettbewerbs als Auswahlmodus.

Ähnliches gilt für die Ebene der Praktiken. Obwohl die Aktenlage nicht für jeden einzelnen Concours im gleichen Maße ergiebig oder vollständig ist, konnten Prüfungsabläufe und Modifikationen sowie das Zusammenwirken von Bildungsministerium, ENS und Akademien für weite Teile des Betrachtungszeitraumes gut rekonstruiert werden. Für den Bereich der Institutionalisierung, sowohl was die Strukturen der ENS als auch was die größeren Entwicklungen in der Instruction publique betrifft, war es dabei notwendig, über den ursprünglich anvisierten Anfang des Betrachtungszeitraumes mit der Revolution von 1848 hinaus zu blicken, da Reformen im Ersten Kaiserreich und in der Julimonarchie eine entscheidende Voraussetzung für die späteren Entwicklungen bildeten. Dabei verstärkte sich der Eindruck der Stabilität, vor allem was die Resistenz des Wettbewerbs gegen politische Umbrüche betrifft. Systemwechsel hatten auf die Strukturen der ENS und insbesondere auf die Abläufe des Concours nur einen relativ geringen Einfluss. 

Wie die langfristige Betrachtung der Verfahrensabläufe deutlich machte, umfassten die Auswahlkriterien des Concours nicht nur Fähigkeiten, sondern auch „Verdienste“: Neben akademischen Zeugnissen erhielt die ENS im Zuge der Anmeldung zum Concours in einzeln angelegten Kandidatendossiers eine Vielzahl von Hintergrundinformationen über den Charakter, die außerakademischen Leistungen und den familiären Hintergrund der Kandidaten. Die „Eignung“ eines Kandidaten bemaß sich aus der Perspektive der ENS also nicht nur nach akademischer Leistung, sondern auch nach der Frage, ob der zukünftige Schüler als Teil einer homogenen Gruppe funktionieren würde, sie war in dieser Hinsicht also nur bedingt durch Examina abprüfbar.

Zweite Projektphase:

Der Concours der École normale supérieure soll dem der „auditeurs“, der untersten Stufe der Verwaltungsbeamten im Conseil d’État, gegenübergestellt werden. Der Staatsrat bietet sich vor allem aus zwei Gründen als Vergleichsfolie an: Zum einen dient das Auditoriat ab 1809 bis zur Gründung der zweiten École nationale d’Administration (ENA) 1945 – eine erste Gründung war 1848 nach wenigen Monaten gescheitert – als Ausbildungsstätte für die gehobenen Verwaltungsposten des öffentlichen Dienstes. Die Auditeurs fungieren als Mittelsmänner zwischen Staatsräten und Behörden, in denen sie phasenweise auch direkt ausgebildet werden. Nach Ende des Auditoriats folgt nicht zwangsläufig eine weitere direkte Karriere im Staatsrat, sondern die Auditeurs wechseln in andere Bereiche des Verwaltungsapparates. Während die beiden ENAs alleine keine befriedigenden Ergebnisse für den Betrachtungszeitraum versprechen, die eine, weil sie nur wenige Monate existiert, die andere, weil sie erst 1945 eingerichtet wird, bietet die Verbindung mit dem Conseil d’État die Möglichkeit, Versuche einer gezielten wettbewerbsbasierten Auswahl von Kandidaten für die Verwaltungslaufbahn im gesamten Zeitraum in den Blick zu nehmen.

Gleichzeitig bildet der Auditoriats-Concours einen Gegenentwurf zu dem der École normale supérieure, weil er sich als deutlich weniger stabil und sehr viel stärker von politischen Umbrüchen beeinflusst erweist. Nach Einführung des Auditoriats 1803 wurden die Auditeurs ab 1809 durch ein von drei Staatsräten abgenommenes „examen de capacité“ ermittelt. Dieser erste Concours erscheint jedoch als bloße Formalität, entscheidend waren der Sozialstatus der Bewerber und die Entscheidung des Kaisers. In der Restaurationszeit wurde das Auditoriat zunächst abgeschafft, dann wieder eingerichtet, allerdings unter Verzicht auf den Concours, der erst in der Julimonarchie erneut eingeführt wurde. Erst zu Beginn der Zweiten Republik schrieb jedoch ein Gesetz die präzisen Bedingungen fest, trotzdem unterlag das Verfahren weiter starken Veränderungen. Die dritte Republik hielt schließlich am Concours als Auswahlmethode fest bis er von der Neugründung der ENA abgelöst wurde, die ab 1945 die Aufgabe einer Ausbildungsinstitution übernahm.

Während der Concours der ENS es also erlaubte, langfristige Tendenzen und feine Nuancen der Praktiken eines im Wesentlichen stabilen Auswahlverfahrens zu untersuchen, verspricht der Auditeurs-Concours weitere Erkenntnisse auf der Ebene der Debatten, insbesondere in der Frage nach der hohen Legitimationskraft und Akzeptanz, die beim Concours der ENS zu beobachten, aber nicht befriedigend zu erklären ist. Der Auditeurs-Concours ist demgegenüber nicht nur in hohem Maße von aktuellen politischen Entwicklungen abhängig, sondern erscheint auch keinesfalls als alternativloser Auswahlmechanismus. Gleichzeitig legen die Diskussionen um Auswahlmethoden und die regelmäßige Rückkehr zum Concours aber die Vermutung nahe, dass der Wettbewerb auch hier Anforderungen erfüllen kann, denen andere Modi der Personalentscheidung nicht im gleichen Ausmaß gerecht werden können.

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Dr. Annika Klein


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