Über den Zusammenhang von Eigentumsrechten und Personalentscheidungen im Übergang zur modernen Großunternehmung zwischen 1860 und 1970

Spätestens mit der Entstehung und Durchsetzung großer Kapitalgesellschaften, die mit den Eisenbahngesellschaften der Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Anfang nehmen, stellt sich das Problem der Personalauswahl in der Wirtschaft strukturell neu: Zwar besitzt der Eigentümer bzw. die Unternehmensspitze weiterhin das mehr oder weniger uneingeschränkte Recht zur Personalentscheidung, aber dieses Recht allein hilft nun nicht mehr weiter: Personalentscheidungen müssen vielmehr bewusst und geplant getroffen werden und können nicht alleine im Erbgang bzw. auf der Basis von Eigentümerwillkür erfolgen; zumindest müssen derartige Entscheidungen fachlich abgesichert werden. Folgerichtig werden Personalentscheidungen insbesondere in großen Unternehmen, namentlich in den neu entstehenden Aktiengesellschaften durch den gezielten Aufbau von Eigenkomplexität gesteuert, die selbst aber wiederum historisch wandelbar ist, ja sein muss. Hiernach, nach dem Aufbau von personalpolitischer Eigenkomplexität im Unternehmen, ihrer Funktionsweise und ihrem Wandel im späten 19. und im 20. Jahrhundert wird in diesem Teilprojekt gefragt.

Dabei folgt die Fragestellung folgenden konzeptionellen Vorüberlegungen: Organisations- und Personalentscheidungen sind aufgrund der Rechtsstruktur der Unternehmen Eigentümerentscheidungen bzw. durch Entscheidungsdelegation der Eigentümer an entsprechende Institutionen legitimierte Entscheidungen der jeweiligen Organisationsspitze. Insofern besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der corporate governance eines Unternehmens und der Organisation von Personalentscheidungen. In großen Aktiengesellschaften ist dies offensichtlich: Die Eigentümer bestellen den Aufsichtsrat, dieser bestellt den Vorstand, der wiederum die Regeln für Personalentscheidungen erstellt und bestimmte Personalentscheidungen für die Spitze der Organisation auch selbst trifft. Aber auch in familiär beherrschten Unternehmen sind die Verhältnisse klar: entweder die Familie selbst oder von ihr Beauftragte verfügen über die Personalentscheidungskompetenz. Die jeweils niedrigeren Ebenen haben für ihre jeweils niedrigeren Ebenen in der Regel eine abgeleitete, durch vorgegebene Regeln limitierte Personalentscheidungskompetenz, so dass sich in Unternehmen insgesamt eine Art Entscheidungspyramide ergibt, wobei die Wichtigkeit der Entscheidungen (im Sinne der jeweiligen Hierarchieebene) mit dem Weg zur Spitze zunimmt. Diese Entscheidungspyramide differenziert sich zudem mit dem Größenwachstum der Unternehmung aus. Während viele kleine und mittlere Betriebe häufig nur über zwei bis maximal drei Entscheidungsebenen oberhalb der eigentlichen Erstellung von Gütern und Dienstleistungen verfügen, ist diese Pyramide bei Großunternehmen mit zahlreichen Ebenen vom Vorstand über die Direktion, die Bereichs- und Abteilungsleitungen bis schließlich hin zu Meistern und Vorarbeitern viel ausgeprägter. Die Zahl der Personalentscheidungen variiert ebenfalls mit der Unternehmensgröße: je größer ein Unternehmen, umso häufiger sind Personalentscheidungen zu treffen. Mit der Häufigkeit ist daher hier relativ früh ein Zwang zur Routinisierung und Regularisierung verbunden. Wir gehen folgerichtig davon aus, dass die Intensität der Routinisierung und Regularisierung von Personalentscheidungen insgesamt mit folgenden Gegebenheiten korreliert: Größe und technische Komplexität der Unternehmung, Rechtsform, arbeits- und gesellschaftsrechtliche Rahmenbedingungen, wirtschaftliche Lage und Marktstellung.

Die zentrale Frage bezieht sich mithin zunächst auf die Rekonstruktion der „personalpolitischen Strukturen“ in ausgewählten Großunternehmen. Wir wissen zwar, dass sie entstehen mussten, in welcher Form und mit welchen Ausprägungen aber war durch die Tatsache ihrer Notwendigkeit selbst nicht festgelegt.

1. Zu fragen ist insbesondere nach der Bedeutung der Größe des Unternehmens und Vielzahl der Entscheidungsprozesse

2. Zu fragen ist des Weiteren nach der technischen, organisatorischen und wirtschaftlichen Komplexität der Handlungsprozesse im Unternehmen

3. Zu fragen ist schließlich nach der Bedeutung rechtlicher Vorgaben, insbesondere vertrags- und arbeitsrechtlicher Vorschriften und Vorgaben und die Bedeutung einer hierauf bezogenen Praxis der Rechtsprechung für die Struktur und den Wandel unternehmerischer Personalentscheidungen.

4. Vor dem Hintergrund dieser Faktoren ist überdies danach zu fragen, welche Eigendynamik bestimmte Personalentscheidungstraditionen („Führungsstile“) gewinnen können, also Strukturen und Mustern der Personalpolitik, die ihrerseits als erfolgreich wahrgenommen und allein deshalb in den Unternehmen tradiert werden, zumindest solange diese Bewährung anhält, manchmal freilich auch darüber hinaus. Personalentscheidungsstrukturen und Personalentscheidungen in unternehmen besitzen vor dem Hintergrund dieser Bedingungen daher zweitens stets auch ein strategisches Moment, das die einzelnen Unternehmen von einander unterscheidet.

Insofern sind ein Vergleich zwischen verschiedenen Unternehmen einer Branche, ein branchenübergreifender Vergleich sowie schließlich auch ein internationaler Vergleich sinnvoll, mit dem Unterschiede und Ähnlichkeiten ebenso identifiziert werden können wie gegenseitige Beeinflussungen, die gerade im Bereich der Unternehmensentwicklung eher häufig als selten vorkommen: „Best Practice“, d.h. die genaue Beobachtung von Personalstrategien konkurrierender Unternehmen gehört in der Wirtschaft seit dem 19. Jahrhundert geradezu zur Selbstverständlichkeit, auch wenn erst internationale Unternehmensberatungen seit den 1960er Jahren eine regelrechte Standardisierung von Personalentscheidungen – mit im übrigem mäßigen Erfolg – empfahlen.

Ziel dieses Teilprojektes ist es, die Personalrekrutierung und die Karriereverläufe in mehreren Großunternehmen einer vergleichenden Rekonstruktion zu unterziehen, um herauszuarbeiten, wie Wirtschaftsorganisationen unter den Bedingungen des Kapitalismus ihr Personalentscheidungsproblem lösen. Geplant ist dabei in einem ersten Schritt diese Analysen für deutsche Großunternehmen, und zwar für die IG-Farben (incl. Vorgänger und Nachfolger), für Siemens, die AEG, die Vereinigten Stahlwerke (incl. Vorgänger und Nachfolger), für Daimler, VW und BMW, für Carl Zeiss (was aus verschiedenen Gründen als Stiftungsunternehmen einen überaus interessanten Sonderfall darstellt!) und Robert Bosch sowie schließlich für die Deutsche Bank zumindest für die Zeit bis 1945 (da spätere Akten nicht eingesehen werden können), durchzuführen. Diese Großunternehmen bieten sich an,  da sie ein breites Branchenspektrum abdecken, mehrere Fälle pro Branche betrachtet werden können, die Größe ein entsprechend aussagekräftiges Sample ermöglicht und schließlich die Aktenüberlieferung in den Unternehmensarchiven eine hinreichend gute empirische Basis für die Analysen darstellt.

Im Rahmen der sich jeweils wandelnden ökonomischen und institutionellen Rahmenbedingungen werden drei Analyseebenen im Vordergrund stehen.

Zunächst geht es um die Rekonstruktion der personalpolitischen Entscheidungsstrukturen im Zeitablauf. Gefragt wird insbesondere nach der Entstehung und dem Aufbau spezifischer institutioneller Regelungen (Personalabteilungen etc.) und die in diesen und durch diese verkörperten Entscheidungsstrukturen. Arbeitshypothetisch wird dabei davon ausgegangen, dass zwischen Personalentscheidungsbedarf (Anzahl der Fälle, Problematik der Rekrutierung, Höhe des Angebotes, Vorbildung der Bewerber etc.) und der Etablierung und Ausdifferenzierung hierauf bezogener institutioneller Strukturen eine Art koevolutionäres Verhältnis bestand. Während zunächst noch die entsprechenden Entscheidungen durch die Unternehmensspitze selbst getroffen wurden, begann bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein Prozess der Ausdifferenzierung, der unter den Bedingungen der Weimarer Zeit („Ausleseproblem“) zu einer raschen Professionalisierung der Personalpolitik führte, zumal auch das neue kollektive Arbeitsrecht derartige Institutionenbildungen verlangte, zumindest aber begünstigte. Die rasche Expansion der Unternehmensbürokratien nach dem Krieg wurde in der Regel mit diesen Institutionen bewältigt; erst die „Verwissenschaftlichung“ der Unternehmensführung seit den 1960er Jahren brachte einen erneuten Schub institutioneller Differenzierung und Umbildung.

Zweitens geht es um die Aufdeckung und Analyse der Entscheidungsverfahren, die in diesem institutionellen Rahmen zur Anwendung kamen, und eben um ihren Wandel in der Zeit. Entscheidend ist vor allem die Analyse der Erwartungen in diesen Entscheidungsprozessen gegenüber formalen Kompetenzen und informellen Qualitäten der Bewerber, um Bewährungs- und Erprobungsverfahren, um Beförderungs- und Beurteilungsmechanismen etc., wobei auch hier wiederum der Wandel im Zeitablauf zu sehen ist. Während die Hinweise relativ stark sind, dass bis in die 1880er Jahre hinein der persönliche Eindruck wichtiger war als die formale Kompetenz, gewannen bereits seit den 1890er Jahren die formalen Kompetenzen eine sehr viel stärkere Bedeutung, auch wenn die Entscheidung häufig noch sehr individuelle Züge trugen. In den 1920er Jahren werden die Auswahlverfahren nach detaillierten Kriterien durchgeführt im Rahmen der Beschäftigung dann Bewährungswege in einer Weise definiert, dass auf der Basis von Personalbewertungen Karrieren kalkulierbar werden – freilich immer mit den Möglichkeiten des Karriere-Abbruchs bei Erfolglosigkeit oder in wirtschaftlichen Krisen. Insofern ist hier sehr stark die Differenz zu Karrieren etwa in der Staatsbürokratie zu betonen, die diese in der Wirtschaft konstitutive Unsicherheit nicht kennen.

Drittens schließlich soll die Praxis der so rekonstruierten Personalentscheidungen anhand von individuellen Karrieren transparent gemacht werden. Dies setzt die quantitative Erfassung der Personalentscheidungen voraus, aus denen dann Exempla (etwa Vorstandskarrieren) herausgenommen werden, so dass im Ergebnis ein quantitatives Urteil ebenso möglich ist wie vor diesem Hintergrund eine Betrachtung exemplarischer Einzelfälle.

Diese drei Analyseschritte gilt es schließlich zu einem Gesamtbild zu verdichten, das dann wiederum als Folie für internationale Vergleiche dienen kann, die aber in der ersten Projektphase noch nicht möglich sind.

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Dr. Jörg Lesczenski


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