Schwerpunkte der ersten Forschungsphase 2014 - 2017

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Die Forschergruppe „Personalentscheidungen bei gesellschaftlichen Schlüsselpositionen“ besteht aus Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Università di Pavia.

Personalentscheidungen – der Entschluss, bestimmten Personen gesellschaftliche Schlüsselpositionen zu übertragen und anderen nicht – zählen wahrscheinlich zu den häufigsten  historischen Ereignissen von mehr als trivialer Bedeutung. Sie kommen in allen bekannten Epochen vor und betreffen fast alle Lebensbereiche. Ihre Häufigkeit und ihre Relevanz für  politische, kulturelle, wirtschaftliche und religiöse Strukturen bedingen, dass Gesellschaften mit Personalentscheidungen bewusst umgehen. Personalentscheidungen beeinflussen  die Qualität der Erledigung von politischen, religiösen, ökonomischen oder kulturellen Aufgaben mit allgemeiner Relevanz und bestimmen zugleich individuelle Macht, Autorität,  Einfluss oder Einkommen. Sie sind aber fundamental kontingent. Ob der oder die Ausgewählte seine oder ihre Aufgabe nach unterschiedlichen Maßstäben „gut“ erfüllen wird, lässt sich zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht mit Sicherheit angeben. Die Frage, ob eine andere individuelle Personalentscheidung oder ein anders strukturiertes Verfahren „besser“ gewesen wären, kann genauso wenig abschließend geklärt werden, da eine Wiederholung der Erfahrung mit anderen Akteuren unmöglich ist. Insofern sind  Personalentscheidungen selbst dann angreifbar, wenn sie nicht zu offensichtlich defizitären Ergebnissen geführt haben. Da die in einer Auswahl nicht zum Zuge gekommenen in der  Regel die Mehrheit der Beteiligten ausmachen, müssen Personalentscheidungen für diese Gruppe akzeptabel sein, damit nicht jede Auseinandersetzung um eine begehrte Position  gesellschaftliche Strukturen insgesamt in Frage stellen kann. Personalentscheidungen müssen somit in einer Weise erfolgen, deren Begründung allgemein – wenn auch vielleicht  nicht in jedem konkreten Fall – überzeugt. Die Verfahren, mittels derer gesellschaftlich relevante Schlüsselpositionen vergeben werden, müssen mithin klären, wer für ein  bestimmtes Amt wann ausgewählt werden soll, und sie müssen die Akzeptanz der Entscheidungen sicherstellen, indem sie die Kontingenz entweder unsichtbar machen oder (etwa durch Losverfahren) zum Prinzip der Auswahl erheben, ohne diese wiederum zu trivialisieren; das kann etwa geschehen, indem die Zufälligkeit der Auswahlergebnisse als Ausdruck  göttlichen Willens verstanden wird.

Verfahren, in denen Personalentscheidungen erfolgen, unterliegen in hohem Maße historischem Wandel. Man kann sagen, dass sich historische Formationen auch danach unterscheiden lassen, wie in ihnen formalisierte Personalentscheidungen für Positionen von öffentlicher und damit zugleich gesellschaftlich herausgehobener Relevanz fallen – also  durcheine bestimmte Kombination von Abstammung, Losverfahren, Wahl, Kooptation, Wettbewerb oder Beauftragung durch eine weltliche oder göttliche Macht. Dabei ist es keineswegs so, dass ‚irrationale‘ Entscheidungsverfahren (wie das Los) im Laufe der Zeit durch rationalere (wie die Prüfung) abgelöst oder eher statusorientierte Prinzipien (wie die Abstammung) vollständig durch egalitärere (wie die Wahl) ersetzt worden wären. So können für eine Karriere in der modernen Politik Losverfahren (um einen juristischen  Studienplatz, der einen besonders günstigen Ausgangspunkt einer solchen Karriere darstellt) und Elemente der Abstammung (wie die Übernahme einer elterlichen Kanzlei) ebenso  eine Rolle spielen wie Prüfungen (die notwendigen Examina) oder Wahl (in Parteigremien). Die Kontinuität der Praktiken in Verbindung mit der immer wieder auftretenden  Schwierigkeit, manche von ihnen zu bestimmten Zeiten zu legitimieren, ist umso auffälliger, als es im Hinblick auf die Semantiken zumindest vordergründige Gemeinsamkeiten gibt,  die etwa auf die Auswahl der wegen ihrer allgemeinen oder speziellen Kompetenzen in der Sache Geeignetsten verweisen.

Die aktuelle Diskussion über Personalentscheidungen ist einem doppelten Fortschrittsnarrativ verpflichtet, das wir für problematisch halten. Sie nimmt an, optimale  Personalentscheidungen für gesellschaftliche Schlüsselpositionen könnten – wenn man wissenschaftliche Erkenntnisse optimal umsetzt – im Rahmen von Verfahren erfolgen, deren  Ergebnis eindeutig ist und die zugleich egalitäre Prinzipien beachten. Das würde bedeuten, dass sie das Kontingenzproblem beseitigen oder auf bestimmte gesellschaftliche  Bereiche wie die Politik beschränken, wo die Personalauswahl in demokratischen wie in autokratischen Gesellschaften kaum ausschließlich nach professionellen Vorgaben gestaltet  werden kann. Allerdings kann man diesem Fortschrittsnarrativ aus der Perspektive der historischen Forschung derzeit wenig mehr als den allgemeinen Schluss entgegensetzen,  dass lange Jahrzehnte der Erprobung und Erforschung von Personalauswahlverfahren weder zu unstrittigen Ergebnissen noch zu einer stabilen „bestpractice“ geführt haben.

Die Forschergruppe will die Zusammenhänge von Legitimitätserwartungen, Verfahren und konkreten Entscheidungen bei der Vergabe gesellschaftlicher Schlüsselpositionen von der  Spätantike bis ins frühe 20. Jahrhundert intensiv untersuchen. Wir gehen davon aus, dass Personalentscheidungsprozesse von drei Momenten konstituiert werden, die ihnen ihr jeweils historisch spezifisches Gepräge geben, und deren Zusammenspiel wir untersuchen wollen:

1. Auf der Ebene der Semantik der Entscheidungsprozesse (oder der Legitimitätserwartung) wird über den Zuschnitt und die Bedeutung eines Amtes entschieden und werden  Erwartungen an die auszuwählenden und auswählenden Personen sowie an die allgemeinen Charakteristiken von Auswahlverfahren formuliert. Die semantische Ebene ist von  zentraler Bedeutung, weil sie die Institutionen begründet, mit denen Entscheidungsprozesse strukturiert werden.

2. Die Institutionalisierung von Entscheidungsprozessen ist das zweite Moment, das wir ins Auge fassen wollen. Hier wird zweierlei explizit festgelegt. Zunächst werden der Kreis  der potentiellen Kandidaten und der Kreis derjenigen, die über die Kandidaten entscheiden, bestimmt. Auf der institutionellen Ebene wird ferner das jeweils legale  Entscheidungsverfahren fixiert, in welcher Weise also zwischen qualifizierten Kandidaten die Entscheidung bindend getroffen wird.

3. Semantiken und Institutionen determinieren praktische Entscheidungsprozesse nicht, legen aber gleichsam eine Art legitimen und legalen Entscheidungskorridor fest, von dem  abzuweichen begründungsbedürftig ist und – im Zweifelsfall – sanktioniert wird. Die sich entwickelnden und durchsetzenden Praktiken sind mithin koevolutiv auf einen Rahmen von  Semantiken und Institutionen bezogen, der für sie keineswegs ignorierbar ist. Das heißt, dass konkrete Entscheidungsprozesse zwar erhebliche Freiheitsgrade besitzen, diese aber stets in einem Komplex von Semantiken, Institutionen und Praktiken zu sehen sind.

Kontakt

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