Klassische Deutungsmodelle

Bis vor etwa zwei Jahrzehnten wurden die vormodernen Gesellschaften des lateinischen Europa als eine Variante des anthropologischen ‚Normalfalls‘ behandelt. Als ‚Normalfall‘ gilt grosso modo, dass die Verfügung über materielle und immaterielle Ressourcen einer Gesellschaft weitgehend von verwandtschaftlich definierten Gruppen strukturiert wurde. Die langfristige Entwicklung im lateinischen Europa war nach diesem Modell jene von der Strukturierungsmacht von Verwandtschaftsgruppen im Mittelalter zur Strukturierungsmacht des Staates seit der frühen Neuzeit. Die Durchsetzung des Staates wäre demnach zu Lasten der Macht von Verwandtschaftsbeziehungen gegangen.

Neue Deutungen und Aufgaben

Gegenwärtig scheint sich, nach Jahrzehnten intensiver Diskussion, eine andere Entwicklungsgeschichte durchzusetzen. Diese sieht die entscheidende Zäsur nicht am Beginn der frühen Neuzeit, sondern am Ende der Antike. Die Durchsetzung des lateinischen Christentums hat anscheinend nach dem Zusammenbruch der römischen Gesellschaft einen fundamentalen Wandel in der Geschichte von Ehe, Familie und Verwandtschaft ausgelöst.  Man kann die neue Deutung – holzschnitthaft vereinfacht – auf folgende Formel bringen: von starken, agnatischen Verwandtschaftsgruppen mit einer schwachen Position des konjugalen Paares in der Mittelmeerwelt des römischen Imperiums hin zu schwachen, kollateralen Verwandtengruppen mit einer starken Position des konjugalen Paares in den poströmischen, lateinischen Gesellschaften. Der entscheidende politische Motor dieser Entwicklung scheint die fränkische Welt gewesen zu sein. Seit etwa der Karolingerzeit (8./9. Jahrhundert) sind weit weniger Lebensbereiche durch Verwandtschaftsstrukturen geregelt worden als in vergleichbaren Gesellschaften.

Auf diesen Diskussionsstand aufbauend wird inzwischen (erstmals durch Sabean/Teuscher 2007) die Hypothese destilliert, dass “starke” Verwandtschaft im lateinischen Europa zwar kein mittelalterliches Phänomen gewesen sei, wohl aber eine frühneuzeitliche Entwicklung. Starke Verwandtschaftsverbände sind, so scheint es, erst seit dem 15. Jahrhundert entstanden. Somit waren Verwandtschaft und Staat nicht konkurrierende Instanzen (so dass die Zunahme des Staates eine Abnahme der Verwandtschaft bedeutet hätte), sondern umgekehrt sich unterstützende, Hand in Hand entwickelnde Systeme. Diese fundamentale Neudeutung der Geschichte von Ehe, Familie und Verwandtschaft im lateinischen Europa hat erhebliche Konsequenzen für viele Forschungsfelder, insbesondere für die Erforschung der europäischen Institutionengeschichte.

Der Ansatz des Projektes

Seit die historische Verwandtschaftsforschung ihren Gegenstand nicht mehr a priori biologistisch setzt ("Deszendenz und Allianz"), sondern aus dem Verwandtschaftsverständnis der jeweils untersuchten Kulturen ableitet, ist sie für den Kulturvergleich auf ein kompliziertes Instrumentarium angewiesen.

Das Leibniz-Projekt wählt als Vergleichsparameter die Funktionen und Denkformen intergenerationeller Übertragung. Angeregt durch die Anthropologin Esther Goody (Parenthood and Social Reproduction, Cambridge 1982) geht das Projekt von der Frage aus, welche Aufgaben eine Gesellschaft bewältigen musste, um neue Mitglieder so zu sozialisieren, dass sie Erwachsenenrollen akzeptieren und übernehmen konnten.

Beobachtet werden mithin all jene Regelungsbereiche, die zur sozialen Ersetzung nötig sind: Zeugen/Gebären, Initiation in die Gesellschaft (z.B. Taufe und Namengebung), Erziehung, Weitergabe von Wissen (elementarem, spezialisiertem, gelehrtem Wissen), Adoleszenz und Initiation in die Erwachsenenwelt (z.B. Schwertleite, Konfirmation), Übertragung von familialem und sozialem Status sowie von materiellen Gütern. Zu diesem Spektrum der Funktionen sozialer Ersetzung gehören auch jene Reziprozitäten, die sich bei der Versorgung der Alten oder in Sepulkral- und Memorialpraktiken zeigen. Das Projekt untersucht solche intergenerationellen Übertragungen aus drei Perspektiven:
(a) wie sie in einer gegebenen Gesellschaft im Regelfall verteilt waren,
(b) wie sie bei Dysfunktionalitäten delegiert wurden,
(c) wie sie diskursiv modelliert wurden.

Kontakt

Prof. Dr. Bernhard Jussen

Goethe-Universität Frankfurt
Historisches Seminar
Grüneburgplatz 1
60629 Frankfurt am Main

Raum: IG 4.416

Tel: 069/798-32427
Fax: 069/798-32425
Email
: jussen@em.uni-frankfurt.de


Dr. Karin Gottschalk

Goethe-Universität Frankfurt
Historisches Seminar
Grüneburgplatz 1
60629 Frankfurt am Main

Raum: IG 4.454

Tel: 069/798-32326
Fax: 069/798-32425
Email: k.gottschalk@em.uni-frankfurt.de


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