Dr. Marco Platania

Kolonialgeschichte und französische Nationalidentität. Die Rolle der kolonialen Geschichtsschreibung für die Entfaltung des Paradigmas der französischen Nationalgeschichte im 19. Jahrhundert

Das am Internationalen Graduiertenkolleg laufende Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der französischen Kolonialgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als einer Form der politischen Kommunikation, die sich in ihrem langen Transformationsprozess vom 18. bis ins 20. Jahrhundert darum bemühte, das Bild Frankreichs als einer Imperialmacht zu konstruieren und zugleich dieses Bild innerhalb der Darstellung der Nationalgeschichte zu naturalisieren. Ausgangspunkt dieser Forschung bildet eine Doktorarbeit, die die in der Epoche der Moderne erfolgte Herausbildung von Paradigmen narrativer und politischer Geschichte der französischen Ostindien-Expansionspolitik im kolonialen Kontext und den damals zirkulierenden historischen Erinnerungen und diplomatischer Korrespondenz zwischen Mutterland und Übersee-Besitzungen verortet hat. Das Forschungsprojekt zielt nun darauf, Kontinuitäten und mögliche Diskontinuitäten in der Entwicklung des geschichtlichen Wissens in ihrem Verhältnis zu der Konstruktion eines Profils der französischen Nation zwischen 18. und 20. Jahrhundert zu untersuchen. Der Schwerpunkt der Untersuchungen wird auf dem 19. Jahrhundert liegen, jener Phase, in der sich die Sedimentation eines Paradigmas vollzog, das einen klar nationalistisch-imperialen Geschichtsnarrativ beinhaltete.

Heute erfolgt innerhalb der Geschichtswissenschaft eine Neubewertung der europäischen Expansionsdynamiken und ihrer Auswirkungen auf nationaler wie lokaler Ebene im Lichte neuer Forschungsperspektiven, wie der "global history", "transnational history", "Atlantic History" oder auch der "new imperial history"; gleichzeitig hat die im vergangenen Jahrzehnt in Frankreich aufgekommene Debatte um die historische "Tatsache der Kolonisation" dazu geführt, dass das nationalgeschichtliche Paradigma der französischen Kolonialisierung seinen Anschein von Triftigkeit einbüßte. Daher erscheint es mir wichtig - unter Einbeziehung der genannten neueren Forschungsansätze - zu untersuchen, wie von den Zeitgenossen jener Epoche genau diejenigen Dynamiken, mit denen sich die Forschung heute erneut beschäftigt, historisch verstanden und als Historie erzählt wurden. Denn ein besseres Verständnis des Prozesses der Herausbildung eines historiographischen Paradigmas kolonial-nationaler Geschichte sowie der problematischen Aspekte, die uns dies bis heute hinterlassen hat, kann möglicherweise zu einer adäquaten Reformulierung der Kolonial-Geschichte beitragen, die sich von der Hypothek einer ebenso umstrittenen wie unzuverlässigen nationalen Perspektive befreit. Weiterhin ziele ich in meiner Arbeit auf die Aufdeckung der enorm vielfältigen Strukturierungen des historischen Wissens und der daraus resultierenden Blickwinkel, aus denen über den Nexus Kolonien-Nation reflektiert wurde; denn ein kritischer Vergleich der Fragestellungen, die in den Betrachtungen und Publikationen jener Epoche auftauchen, könnte uns möglicherweise auch helfen besser zu verstehen, welche Kontinuitäten und Brüche uns mit der kolonialen Vergangenheit verbinden: Ist es noch möglich eine Kolonial-Geschichte zu schreiben? Und wenn ja: in welcher Form? Welche Verbindungen und welche Unterschiede wird dann eine solche Rekonstruktion der Kolonialgeschichte gegenüber den vergangenen Rekonstruktionen aufweisen? Und schließlich: Welchen Einfluss hatte und hat eine neue, veränderte Lesart der kolonialen Vergangenheit auf eine reformulierte Nationalgeschichtsschreibung?

Von diesen Vorüberlegungen ausgehend werden im Rahmen des Forschungsprojekts Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Kolonial- und National-Geschichtsschreibung vom 18. Jahrhundert bis ins späte 19. Jahrhundert untersucht, und möglicherweise auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgeweitet, da die Institutionalisierung einer "Kolonialgeschichte" 1921 erfolgte. Ein Teilbereich des Projekts wird die Entwicklung des historischen Wissens als Fachdisziplin untersuchen. Angesichts der großen Fülle an Literatur wird sich das Projekt primär auf Texte aus der Epoche der Moderne konzentrieren, die sich wieder und neu mit der historischen Erinnerung der kolonialen Vergangenheit beschäftigte, weniger intensiv hingegen mit der Kolonialgeschichtsschreibung des 19 Jahrhunderts. Jene Wiederaneignung der historischen Erinnerung war keineswegs (ausschließlich) gelehrte Beschäftigung, sondern auch eine Frage von großer Aktualität, die die gesamte Entwicklung der französischen Kolonialgeschichte im 19. Jahrhundert begleitete, von der Juli-Monarchie bis zum 2. Kaiserreich und der 3. Republik: In allen neuralgischen Phasen dieses quälend schwierigen "kolonialen Projekts" kam der Interpretation der kolonialen Vergangenheit eine strategische und durchaus heikle Rolle zu: An ihr hing die Legitimierung der Forderungen nach Gebietseroberungen, ebenso wie die Vermittlung des offenkundigen Scheiterns der vermeintlichen "kolonisatorischen Mission" in ein als langfristig konzipiertes koloniales Paradigma, das von den ersten See-Abenteuern bis zu den jüngsten Gebietserwerbungen in Afrika und Indochina reichte. Die Geschichte der kolonialen Unternehmungen beeinflusste so nicht nur die weiter reichende Diskussion um den spezifischen Charakter französischer Macht sondern spielte in der Debatte um die Nation als imperialer Macht auch eine propagandistische Rolle. Die Eckpunkte dieser Debatte wurden bereits von der Geschichtswissenschaft des 18. Jahrhunderts formuliert; trotzdem scheint es mir notwendig innerhalb dieser grundsätzlichen Kontinuität herauszuarbeiten, welche Differenzierungen auftauchten, etwa zwischen der Geschichtsschreibung eines Voltaire oder in der Histoire des deux Indes und demgegenüber als extreme Gegenposition den Schriften von Gaffarel und Rambaud; nicht, weil die beiden erstgenannten Arbeiten im Gegensatz zu letzteren - wie oft behauptet - "anti-kolonial" wären, sondern, weil in ihnen die Idee der Nation und der politischen Kommunikation selbst andere Akzentuierungen und Ausformungen annimmt, in denen sie sich von ihren Vorläufern abhebt. Das nationale französische Selbstverständnis sieht sich somit einer unerwarteten Pluralität narrativer Paradigmen der eigenen Geschichte gegenüber.

Publikationen

Monographien:

  • Montesquieu e la virtù. Rappresentazioni della Francia di Ancien Régime e dei governi repubblicani, Torino, UTET, 2007

Arbeiten zur Kolonialgeschichte:

  • Un passato che non passa? La 'question coloniale' e la storiografia francese (XVIII-XXI secc.), "Contemporanea", 2009, 2, pp. 227-252.
  • Savoir historique et expansion coloniale française au XVIIIe siècle/Sapere storico ed espansione coloniale francese nel XVIII secolo. Thèse de doctorat/Tesi di dottorato, depositata presso l'Université Paris 8, Vincennes - Saint-Denis, e presso l'Università di Trieste, 2007
  • Yves Benot et le problème colonial en France, 1970-2005, "Cromohs", 11 (2006), pp. 1-6, < URL: http://www.cromohs.unifi.it/11_2006/platania_benot.html >
  • Dynamiques des empires et dynamiques du commerce : inflexions de la pensée de Montesquieu : 1734-1802, "Revue Montesquieu", 8 (2005-2006), pp. 43-66.
  • Formes de la liberté: images politiques des Indiens d'Amérique dans la deuxième moitié du XVIIIe siècle, in Le problème de l'altérité dans la culture européenne. Anthropologie, politique et religion aux XVIIIe et XIXe siècles, a cura di G. Abbattista, R. Minuti, Napoli, Bibliopolis, 2006, pp. 219-239.

Arbeiten zum Republikanismus:

  • Montesquieu e la "necessità" della religione. Un approccio laico e comparativo al problema religioso nelle società politiche, in I filosofi e le società senza religione, a cura di G. Goggi e M. Geuna, Il Mulino, Bologna, 2009 (in corso di stampa)
  • Repubblica e monarchia, in Illuminismo. Un vademecum, a cura di E. Tortarolo e G. Paganini, Bollati-Boringhieri, Torino 2008 pp. 152-167.
  • Morale naturelle et développement des sociétés: les Troglodytes et les Guèbres dans la réflexion de Montesquieu, in Etica e progresso / Ethique et progrès, Atti del Convegno internazionale, Napoli, 2-4 dicembre 2004, a cura di L. Bianchi, Napoli, Bibliopolis, 2007, pp. 49-76.
  • La favola sui Trogloditi di Montesquieu: antropologia, società e politica, "Giornale critico della filosofia italiana", LXXXIII (2004), fasc. I, pp. 82-105.
  • Virtù, repubbliche, rivoluzione: Saint-Just e Montesquieu, in Poteri, democrazia, virtù. Montesquieu nei movimenti repubblicani all'epoca della Rivoluzione francese, a cura di D. Felice, Milano, Franco Angeli, 2000, pp. 11-44.

Derzeitige Tätigkeit:

Studienrat am Lessing-Gymnasium Frankfurt/M für Geschichte und Philosophie.

Kontakt

Dr. Marco Platania
marco.platania@gmail.com