Vergangenheit als Argument in der politischen Kommunikation

150x100_druck5

Geschichtsschreibung dient der Traditionsbildung ebenso wie der Kritik an vorhandenen Bildern von der Vergangenheit, sie dient der Mythenbildung ebenso wie der Delegitimation solcher Mythen. In diesem Sinne ist das Schreiben über die Vergangenheit Teil der jeweiligen zeitgenössischen Kommunikation über die Legitimität einer Verfassungsordnung und der diese begründenden Traditionen. Im Sinne der Forschungsthese des IGK ist Geschichtsschreibung deshalb auch Teil der politischen Kommunikation einer Gesellschaft.

 Die moderne Form wissenschaftlicher Geschichtsschreibung entwickelte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Zeitgleich wuchs solcher Wissenschaft mit der Debatte über die Legitimität der Nationalstaatsbildung eine ganz eigene politische Rolle zu, die für alle Länder Europas zu einer wichtigen Phase der eigenen Geschichte wurde. Im Vergleich der Entstehung und Ausformung solcher nationaler Mythen sollen die Fragen nach der Rolle von Geschichtsschreibung im Prozeß politischer Legitimitätsstiftung aufgenommen und präzisierend weitergeführt werden.

Auch der Anspruch der Wissenschaften auf Freiheit von politisch/religiöser Funktionalisierung, wie er seit den Akademiegründungen des 18. Jahrhunderts von Seiten der experimentellen Wissenschaften in Europa immer deutlicher formuliert wurde, ist Teil der politischen Kommunikation neuzeitlicher Gesellschaften. Die Wissenssoziologie formulierte für das 20. Jahrhundert sogar die These von der Delegitimation gesellschaftlicher Werte und Normen aufgrund des immer stärker ausgeprägten Einflusses der Naturwissenschaften auf politische und Verfassungsentscheidungen. Die damit gestellte Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und politischer Herrschaft gilt für alle Wissenschaftszweige, sie ist schließlich auch eine Frage nach dem Gleichgewicht zwischen Natur- und Geisteswissenschaften in neuzeitlichen Wissensgesellschaften. In der Debatte um diese Zuordnungen steht der Charakter neuzeitlicher Herrschaftsformen, ihre Legitimität, zur Diskussion.

 Ein zeithistorisch sehr präsentes Thema solcher Debatten um Legitimität durch Geschichtsschreibung ist die nach 1945 europaweit geführte Diskussion über die Ursachen von Faschismus/Nationalsozialismus einerseits, die Rolle des Europagedanken für eine gemeinsame europäische politische Neuorientierung andererseits. Das gemeinsame Erbe Europa wurde zu einem Argument, mit dessen Hilfe politische Normen und herrschaftliche Ordnungen durch Traditionen legitimiert werden sollten. Im Rahmen einer Debatte um die Grundlagen einer europäischen Herrschaftsordnung, die sich dezidiert von derjenigen der Vorkriegszeit unterscheiden sollte, erhielt Geschichtsschreibung eine sehr gegenwartsbezogene Orientierungsfunktion.

In diesem Sinne wurde auch die Orientierung an antiken Vorbildern immer wieder für die Kommunikation um politische Normen herangezogen. Gerade weil die Auseinandersetzungen um die historische "Richtigkeit" der "westlichen" politischen Werte nach 1918 und nach 1945 so vehement geführt wurden, war die Bedeutung der Geschichtsschreibung als derjenigen Wissenschaft, die solche Traditionen in der französischen Revolution ebenso verorten konnte wie in der attischen Demokratie, unbestritten. Zugleich aber war sie strittig, denn eindeutige Antworten kann historische Forschung in solchen Debatten um Legitimität nicht geben. Damit ist der Bogen zum methodischen Ausgangspunkt des Graduiertenkollegs geschlagen: Traditionsstiftung durch Geschichtsschreibung setzt eine Bestimmung von historischer Realität voraus, genau darüber aber wird in den nationalen Wissenschaftslandschaften diskutiert. Und um diese Frage auch als methodisches Konzept zu diskutieren werden sich die beteiligten Hochschullehrer alle mit der These von der Konstruktion sozialer Räume befassen, die sich als Teil politischer Kommunikation vergangener Gesellschaften charakterisieren ließe.

Projekte und Dissertationsthemen

Kontakt

Sprecherin:
Prof. Dr. Luise Schorn-Schütte
schorn-schuette@em.uni-frankfurt.de

Koordinator:
Dr. Magnus Ressel

Geschäftsstelle:
Susanne Bayer-Spears
Claudia Pätzold

Johann Wolfgang Goethe-Universität
Historisches Seminar
IGK Politische Kommunikation
Norbert-Wollheim-Platz 1
60323 Frankfurt am Main

Telefon +49 (0)69 798 32595
Telefax +49 (0)69 798 32596